Michel Petrucciani
Er ist der heimliche Star in Roger Willemsens Talkshow. Ein Mann, der dem Jazz zu neuer Blüte verhelfen will und sich dem Rock'n'Roll verbunden fühlt
Immer wenn der Hauspianist mit von der Partie ist, sind Eintrittskarten für ‚Willemsens Woche‘ besonders begehrt. Noch lieber wäre es Michel Petrucciani aber, wenn mit seinem Erscheinen auch die Einschaltquote der Sendung in die Höhe schnellte: „Mir geht’s um Werbung für den Jazz.“ Für den Musiker, der sich auf Krücken fortbewegt, ist jeder Abstecher ins Studio Hamburg eine Strapaze. Daß Petrucciani wegen einer Knochenkrankheit kaum einen Meter groß ist, hält ihn trotzdem nicht davon ab, jedesmal zu tun, „was getan werden muß, um den Jazz aus dem Ghetto zu holen“, und alles zu versuchen, ihn ein bißchen populärer zu machen. Gute Gründe sprechen für das Gelingen seines Vorhabens. Im November letzten Jahres zum Beispiel der Jubel beim Solokonzert ‚Au Theâtre des Champs-Elysees‘, so auch der Titel der neuen Live-Doppel-CD. Im Pariser Klassiktempel spielte der Pianist auf seinem Steinway ein 40 Minuten langes ‚Medley Of My Favourite Songs‘. Auf Herbie Hancocks ‚Maiden Voyage‘ folgt in erstaunlichem Uptempo ‚My Funny Valentine‘ und das einem seiner Söhne gewidmete ‚Rachid‘. Petrucciani setzt gern auf Risiko, liebt Experimente:“In Paris kam mir erst auf der Bühne die spontane Idee, Songs wie ‚I Mean You‘ und ‚Round About Midnight‘ miteinander zu verbinden.“ Ob süffige Balladen, treibender Blues oder wie bei ‚Caravan‘ die Tradition des Stride-Piano um eine arabische Variante bereichert – sein zwischen zart und hart schwankender Umgang mit Standards ist eingängig und spannend zugleich. Humor beweist der Pianist, wenn er etwa einen Auftritt über die große Gästetreppe mit Coltranes ‚Giant Steps‘ unterlegt. Oder den Frontalangriff auf ‚Focus‘-Markwort mit ein paar Sekunden Freejazz einleitet (Titel fürs Sendeprotokoll: „Free Shit“). Trotzdem mußte der Talkmaster seinen behinderten Freund (O-Ton: „Ich gehöre zu den wenigen, die ihn tragen dürfen“) beim ZDF geradezu durchboxen. Einwände gab’s vor allem gegen die erste Runde, wo Petrucciani vom Piano aufs Gästesofa wechselte. Für Willemsen ein erzieherischer Akt: „Man muß dem Publikum einfach gewisse Dinge zumuten und ihm damit die Augen öffnen.“ Dessen ungeachtet hält der Italo-Franzose seiner geliebten Stadt New York unverbrüchlich die Treue, ohne sich allzu große Illusionen zu machen: „Amerika, ein freies Land? Nichts als Tabus und Komplexe!“ Für Petrucciani ein Grund mehr, sich einmal zu outen: „Ich bin immer noch ein Rock’n’Roller.“