Michelle Shocked – Short Sharp shocked
Eine Hewcomerin, und was für eine: Michelle Shocked ist Kennern der britischen Indie-Charts vielleicht bereits seit Ihrem Album THE TEXAS CAMPFIRE TAPES bekannt, doch erst ihr jetzt bei einer "Major Company" erschienenes Album könnte der eigenwilligen Musikerin den Durchbruch bringen.
Die Zeit ist wieder reif für Singer/Songwriter. Was mit Suzanne Vega begann, ist mit Tracy Chapman noch längst nicht zu Ende. Michelle Shocked schreibt Lieder in bester amerikanischer Tradition, sie könnte die Tochter von Woodie Guthrie, die kleine Schwester von Loudon Wainwright III oder eine Nichte sämtlicher moderner, nicht cowboyesker Country-Sänger sein. Dazu eine gute Portion Blues-Feeling und Swing-Zitate, und man hat eine ungefähre Vorstellung von den Songs auf SHORT SHARP SHOCKED, die die junge Dame aus Gilmer/Texas mit lässig/verschlafener Stimme vorträgt. Und sie hält dabei nichts von träger Gleichförmigkeit. Im Gegensatz zu ihrer entspannten, geradezu aufreizend unaufgeregten Stimme, wedelt sie mit der Rasanz eines alpinen Skiläufers durch die Stile. „When I Grow Up“, der Opener, in dem sie ihrem Zukünftigen mit 120 Babies droht, entführt den Hörer in einen altmodischen Jazz-Club. Doch schon die pointiert gepickte Gitarre im darauffolgenden „Hello Hopeville“ eröffnet den bierdunstigen, verräucherten Western Saloon gleich nebenan, dessen rissige Fassade in den „Memories Of East Texas“ erneut unaufdringlich und dennoch suggestiv beschworen wird. Mehr in Richtung Pop geht’s mit „Anchorage“: Eine Großstadt-Hymne im Folk-Rhythmus, mit sanft/raffinierter Melodie, gesungen mit einer lasziv melancholischen Stimme voller Wärme und Persönlichkeit.
Michelle verzichtet dabei auf jegliche instrumentale Effekthascherei, akustische Gitarre, Baß, Drums, ein wenig Violine, mehr passiert selten. Und doch ist alles mit großer Intensität realisiert, wozu Pete Andersons „klassisch“ karge Produktion beiträgt, die man schon von den Alben des neuen Country-Heros Dwight Yoakam kennt. Michelle Shocked, die sich selbst einmal als „introvertierten Bücherwurm“ bezeichnete, sieht sich dementsprechend auch nicht in erster Linie als plattenproduzierender Popstar in spe: Viel lieber tritt sie live auf. Da kann sie ihr Publikum richtig irritieren, denn ihr kurzhaariges Punk-Outfit kontrastiert mit sensiblen Songs, deren witzige Texte oft an Tom Waits erinnern.
SHORT SHARP SHOCKED bietet natürlich mehr Perfektion als die erste LP, doch selbst in diesem Rahmen bleibt Michelle Shocked sich treu. Etwa in dem Song „Graffiti Limbo“, der vom New Yorker Graffiti-Künstler Michael Stewart handelt, der auf der Straße von Polizisten erschlagen wurde.
Michelle Shocked über Folk, Punk & Politik
Gibt es so etwas wie eine neue Folk-Bewegung?
„Folk-Fans wirken auf Außenstehende immer wie eine Kultgemeinde, letztlich sind es einfach Leute, die die Texte kennen und mitsingen. Sie hören sich tausendmal die Platten an, weil sie nicht im Radio laufen, und fühlen sich dann eben wie ein Teil der Musik. Es ist ein bißchen wie bei den Hardcore-Punks. Bei einem Konzert der Circle Jerks springt man auf die Bühne, taucht ins Publikum… und ist Teil des Ganzen.“
Was hat deine Musik denn mit Hardcore zu tun?“
„Ich stand 1983 in San Francisco schwer auf der Hardcore-Szene. Alles passierte im Haight Ashbury District, wo in den 60ern mal der ,Sommer der Liebe‘ ausgerufen wurde. In den 80ern gab’s nur Haß. Hardcore war politische Punkmusik, Musik gegen Rassismus, und Hardcore gab der verschlafenen Jugendkultur den richtigen Tritt, als er nötig war.“
Du magst Musiker wie Leadbelly und Paul Simon. War das nicht sozialer Selbstmord in einer Umgebung, die Hardcore Punk zujubelte?
„Nun, ich selbst war eher so etwas wie ,Hardcore mit akustischer Gitarre‘. Es funktioniert ganz gut. Einmal spielten wir in einem Club dort eine Thrash-Version von ,We Shall Overcome‘. Für mich war das die logische Verbindung von Punk und Folk…“
Deine Texte handeln oft von wahren Begebenheiten, vielfach sehr ernste Dinge. Werden die nicht banalisiert, wenn du sie Abend für Abend singst?“
„Joni Mitchell erzählte ständig Beziehungsgeschichten, die mit der Zeit eben alt wurden. Bei ganz realen, alltäglichen Geschehnissen von der Straße ist das genau umgekehrt.“
Hat deine Musik sich verändert, seit du nicht mehr bei einem Indie-Label, sondern bei der Industrie bist?
„Plattenmachen ist nicht mein Hauptziel. Wenn es die Leute in meine Konzerte lockt, wo ich ihnen meine Dreigroschen-Politik nahebringen kann, dann ist das in Ordnung. Die Leute sollen nicht zuhause hocken und sich von mir anhören, wie ich etwa ,Hängt Reagan‘ oder sowas singe.“
Kommst du mit dem Business klar?
„Es war schon lustig. Polygram bot einen Produktions-Vorschuß von 130.000 Dollar. Ich wußte genau, wenn ich das Album so einfach machte, wie ich’s haben wollte, würde das nie soviel kosten. Ich sagte ihnen, ich wollte überhaupt keinen Vorschuß. Aber sie schrieben mir zurück: ,Wir bestehen auf 50.000 Dollar Vorschuß.‘ Wirklich komisch.“
DIE SELTSAME GESCHICHTE EINER DEBÜT-LP
Daß ihr an Karriere nichts liegt, darf man Michelle Shocked getrost glauben: Andere baggern jahrelang Plattenfirmen um Verträge an, ihr erstes Album entstand per Zufall. Pete Lawrence, ein reisender Talentsucher, hielt einfach seinen Sony Professional Walkman hin, als Michelle bei irgendeinem amerikanischen Folk-Festival auftrat. Das Knacken des Lagerfeuers und das Zirpen der Grillen ist noch drauf zu Hören, und so heißt das Anfang 1987 erschienene Debüt auch THE TEXAS CAMPFIRE TAPES. Die Kritik jubelte, und binnen kurzem war die LP Nummer 1 der britischen Indie-Charts. In ihren Songs konnte Michelle Shocked jede Menge Eindrücke ihrer bewegten Jugend verarbeiten: Nachdem sie in bester Dylan-Manier von zuhause ausgerückt war, landete sie mit 16 Jahren in der Amsterdamer Alternativ-Szene. Wieder in Ami-Land, wähnte ihre Mutter sie vom Teufel besessen und steckte Michelle in eine Nervenheilanstalt. Da aber die famosen US-Psychiater nur gegen Bares therapieren, kam Michelle nach einem Jahr wieder raus: Mamis Geld war alle. Umgehend machte sich die Tochter nach London dünne, wo sie heute (ohne Telefon) auf einem Hausboot wohnt.