Mike Oldfield: Ein Wunderkind kommt in die Jahre


Noch jemand, für den Deutschland zum Eldorado wurde: Nirgendwo sonst auf der Welt hat Mike Oldfield derzeit soviel Erfolg wie bei uns - ein Phänomen, das wir auch von Barclay James Harvest, Robert Palmer, Alan Parsons oder Fischer Z her kennen. Sie alle sind Briten, die in ihrer Heimat stiefmütterlich behandelt wurden - Stars, die zwar nicht im Exil leben, dort aber ihr Geld verdienen...

Als am 25. Mai 1973 die LP Tubular Bells veröffentlicht wurde, schien wieder einmal eine neue Zukunft des Rock’n’Roll anzubrechen. Ein Stück Rockmusik von orchestraler Breite, aber ohne Orchester aufgenommen; ein gerade 19 Jahre alter Multi-Instrumentalist, der in einem nahezu vollständigen Alleingang mit Piano, Orgeln, Gitarren, diversen Schlaginstrumenten und klangvollen Glocken und Glöckchen in ländlicher Abgeschiedenheit und mit ungeheurer Sensibilität ein halbes Jahr lang gearbeitet hatte; dazu ein junger, ideenreicher Unternehmer, der mit dieser Musik eine neue Plattenfirma startete, nachdem alle etablierten Firmen die Produktion abgelehnt hatten – das alles hatte das Zeug zum Mythos und entwickelte sich in der Tat zu einer der größten Erfolgsstories des Rock’n’Roll. Rund sieben Millionen Exemplare von Tubular Bells wurden weltweit verkauft, und Virgin Records und sein Chef Richard Branson lebten bis ans Ende der siebziger Jahre fast ausschließlich von diesen Einnahmen.

Es ist gewiß kein Zufall, daß gerade jetzt, wo spektakuläre Tourneen und Langspielplatten wie Platinum einen zweiten kreativen und kommerziellen Gipfel in der Karriere von Oldfield markieren, der Mythos Risse bekommt. Im April ’81 enthüllte Oldfield in einem Interview mit dem „Melody Maker“, daß Richard Branson und Virgin ihn all die Jahre geradezu ausgeplündert haben – mit Hilfe eines Vertrages, den seinerzeit ein jugendlicher Musiker, der in der Plattenbranche nur verschlossene Türen vorfand, am Ende einer frustrierenden Suche unterschrieben hatte.

An den Einnahmen für seine frühen Platten ist Oldfield mit einem sensationell niedrigen Prozentsatz beteiligt, und Virgin war ungeachtet des Welterfolges von Tubular Bells nie bereit, den Vertrag mit Mike Oldfield zu modifizieren, was in ähnlich gelagerten Fällen im Rockbusiness seit geraumer Zeit durchaus üblich ist.

Die sieben Millionen Tubular Bells-Platten brachten ihrem Schöpfer zwar genug Geld ein, um mit seinem aufwendigen Instrumentarium überleben und weiterarbeiten zu können, aber sie machten ihn nicht zum Millionär – seine erste große Tournee mit Chor und Orchester im Jahre 1979 zum Beispiel konnte er nur absolvieren, weil er bereit war, einen gewaltigen Schuldenberg vor sich aufzutürmen.

Virgin indes gedieh mit Oldfields Geld prächtig und entwickelte sich von einem kleinen Plattenversand zu einem Pop-Imperium mit Musik- und Buchverlagen, einer bedeutenden Ladenkette, einem eigenen Londoner Club, einem namhaften Studio, einer Exportfirma, einer eigenen Insel in der Karibik und diversen Plattenlabels, auf denen von den Sex Pistols über Tangerine Dream bis zu Ian Gillan das gesamte Spektrum der Rockmusik vertreten ist.

Nicht dieses unternehmerische Geschick wirft Oldfield indes Richard Branson vor (der übrigens nach wie vor kunstvoll sein Image als Hippie-Außenseiter pflegt), sondern mangelndes Engagement für Oldfield-Platten. Er hat, sagt er, zum Beispiel noch nie in Amerika gespielt, was wegen der hohen Kosten nur mit Unterstützung der Plattenfirma möglich ist. Sein jüngstes Album QE 2 wurde in den USA gar nicht erst veröffentlicht: Branson, vermutet Mike, fordert zuviel Geld dafür. Dabei war gerade QE 2 eine Geste, mit der Oldfield das Verhältnis zu Virgin entkrampfen wollte: Auf speziellen Wunsch von Branson gestaltete er die LP kommerzieller als er es eigentlich geplant hatte und nahm die umstrittenen Coverversionen von „Wonderful Land“ und „Arrival“ auf. „Inzwischen“, erklärt Mike, „ist mir aber eine weitere Geste eingefallen: Ich werde einen knallharten Anwalt engagieren.“

Harte Worte von einem Musiker, der fast ein Jahrzehnt lang als scheuer, wortkarger Einzelgänger galt. Diese Phase seines Lebens, die typisch war für die Jahre von Tubular Bells, Hergest Ridge und Ommadawn, hat er längst überwunden. Sie hatte ihn in eine ziemlich gefährliche Lebenskrise geführt, als es galt, den plötzlichen Aufstieg zum Weltstar innerlich zu verkraften. Mit seinem Hang zur Introvertiertheit und Egozentrik kam Mike Oldfield nicht weiter, er geriet in eine künstlerische Krise, die auch die Sendepause der Jahre 75-78, zwischen den Alben Ommadawn und Incanations, erklärt.

Den Prozeß der psychischen Reinigung schaffte er in einem Seminar irgendwo in England, über das er nur andeutungsweise erzählt. „Diese Leute dort“, sagt er, „muß man in Ruhe arbeiten lassen. Publizität kann ihnen nur schaden. Sie haben mir viel geholfen, haben meinem Leben eine neue Richtung gewiesen.“ Auf eine entsprechende Frage hin erwähnt er nur noch, daß die Lehrer in diesem Seminar beeinflußt seien durch die Arbeit in Finhorn, einem in der alternativen Bewegung bekannten spirituellen Zentrum in Schottland.

Oldfields persönlicher Wandel wurde bereits durch das Doppelalbum Incanations skizziert. Die Platte brachte eine stilistische Ausweitung des bis dahin bekannten Oldfield-Rocks und klingt mit ihrem weiten Stirnmungsbogen von mystischer Düsternis bis zu heiterer Gelassenheit interessanter als alle anderen LPs, die nach Tubular Bells entstanden waren. Gleichzeitig inszenierte Oldfield sein Debüt auf den Rockbühnen: mit rund vierzig Musikern kam er 1979 auf Tournee, auch nach Deutschland, und wagte damit einen Schritt in die Öffentlichkeit, der früher für ihn undenkbar gewesen wäre.

Diese Entwicklung, die Ende der siebziger Jahre einsetzte, hat mittlerweile bereits zwei Höhepunkte hervorgebracht: das vor eineinhalb Jahren veröffentlichte Album Platinum, sein bestes neben Tubular Bells, und die jüngste Europa-Tournee, welche die Mike Oldfield Group Anfang Juli auch nach Freiburg und Stuttgart führte. Schon auf der Eintrittskarte wird das Ende der Legende vom wortkargen Einzelgänger beschworen. Das Konzert selbst – ich hörte es in der Freiburger Stadthalle – bringt Oldfields eigenwilligen Folk-Rock so packend und virtuos, wie man ihn auf kaum einer Platte und in keinem Konzert bislang hören konnte. Stücken von schwächeren LPs wie QE 2 oder Ommadawn wurde für die Live-Prasentation neues Leben eingehaucht. „Ommadawn“ etwa mit seinem Ostinato-Baß und flirrenden Synthesizer hört sich plötzlich an wie eine gelungene Mischung aus Pink Floyd und Tangerine Dream. Abrupte Breaks leiten zuweilen unmittelbar über von beschwingten Folk-Passagen zu grollendem Rock-Donner. Doch die Band schafft diese Übergänge mit bravouröser Eleganz, die die organische Struktur der breit gefächerten Oldfield-Musik noch unterstreicht.

Die letzten Jahre haben eine Menge guter neuer Instrumental-Titel hervorgebracht (Maggie Rileys Stimme wird ja auch meist instrumental eingesetzt), so daß die Auszüge aus Tubular Bells nur noch als Zugabe eingesetzt werden. Die Musik lebt in der heutigen Zeit, doch ihre Wurzeln, die bis in die indogermanische Vergangenheit Deutschlands und Englands zurückreichen, sind immer präsent – vielleicht ein Indiz dafür, warum Oldfield gerade jetzt bei uns soviel Erfolg hat. Eine Zeitströmung, die fruchtbare Rückbesinnung gegen pervertierten Fortschritt setzt, spiegelt sich in dieser Musik, die Oldfield eher intuitiv denn mit bewußtem Kalkül komponiert. Die erste Tour 1979 war noch ein Mammut-Unternehmen, das die Werke seines künstlerischen Leiters umsetzte; die Mike Oldfield Group ’81 hingegen ist eine überschaubare, kompakte Band in der sich der Gitarrist auch als Komponist einen Namen gemacht hat. Die Besetzung Oldfield (git), Morris Pert (perc), Tim Cross (p, syn), Rick Fenn (b), Mike Frye (perc) und Maggie Rite (voc) ist zu einer kreativen Einheit verschmolzen – wichtigstes äußeres Merkmal von Mike Oldfields Umorientierung.

Auch privat gibt Oldfield neue Erkenntnisse preis. Früher, meint er sei er schon ziemlich exzentrisch gewesen, was selbst 1980 noch seine damaligen Tourmusiker zu spüren bekamen. Doch er lerne jetzt ständig dazu und habe vor allem erfahren, was es heißt, für an dere Leute Verantwortung zu tragen. „Wenn ich komponiere, dann hängt davon nicht nur meine Frau, unser Kind, das Hausmädchen und der Gärtner ab. Auch die Musiker, die mich nunmehr fest auf Tourneen und Platten begleiten, die Konzertveranstalter, die eine Tournee kalkulieren, die Unmenge von Helfern, die überall dabei ist – sie alle sind Teil eines Netzes, das von meiner kreativen Arbeit abhängt. Aber das gibt meiner Arbeit auch einen Sinn, abgesehen von der Selbstverwirklichung, und ich fühle mich sehr wohl dabei.“

Mike Oldfield lebt heute auf einem kleinen, alten Landsitz nordwestlich vom Londoner Flughafen Heathrow. Als ich ihn im Frühjahr besuchte, saß er in seinem Arbeitszimmer inmitten eines Chaos aus Instrumenten, Kabeln und Equipment, das die Wintertournee 80/81 hinterlassen hatte. Auch ein Laufstall und eine Reihe Bücherregale waren auszumachen. Frei im Raum stand lediglich der Fairlight, der letzte Schrei: der elektronischen Musik. Entwickelt wurde dieses Gerät in Australien; grob gesagt ist es eine Mischung aus einem Computer mit Monitor, einem kleinen Synthesizer und einem verbesserter Mellotron. Angeblich kann man damit auch die Buchhaltung erledigen.

Wenn Mike Oldfield hier sitzt und an seiner nächsten LP arbeitet, fällt sein Blick in den Garten und dort genau auf einen schlanken Sandstein-Sockel, in den ein Gesicht eingearbeitet wurde. Eine verblüffende Ähnlichkeit mit Richard Branson ist unübersehbar. Es gibt eben noch immer ein paar Hypotheken aus der Vergangenheit, die Mike Oldfield abtragen muß.