Mit Christen über Kreuz


Trotz ihres scheinbar religiösen Backgrounds lassen sich die Goth-Metaller von Evanescence nicht auf eine Richtung festlegen - weder spirituell noch musikalisch.

Und wie es booooom! gemacht hat: Mit dem Debütalbum Fallen in den US-Billboard-Charts gleich mal auf Rang sieben eingestiegen, bei Redaktionsschluss noch immer in den US-Top Ten – also: Platin. Und das alles dank „Bring Me To Life“ aus dem US-Blockbuster „Daredevil“. Was drüben in den Staaten dermaßen durch die Decke ging, könnte ja auch hierzulande funktionieren, sagte sich daraufhin Branchenriese Sony und zog die Veröffentlichung der Evanescence-Single und -LP in Deutschland vor – mit dem Ergebnis, dass „Bring Me To Life“ aus dem Stand auf die 24 und weiter auf die 8 und die 2 kletterte, während Fallen in der Album-Hitliste sofort die Bronze und wenig später gar die Silbermedaille für sich beanspruchte.

Auch im restlichen Europa und in Asien das gleiche Bild – mit anderen Worten: Das Quartett aus Arkansas ist weltweit der Rock’n’Roll-Newcomer des Jahres und Sängerin Amy Lee der neue Darling der Medien. „Inmitten all dieser Krisen, Konflikte und Kontroversen wollen wir die Oase sein“, sagt sie über ihre Band, die noch vor kurzem im Zentrum einer handfesten Auseinandersetzung stand. Dazu muss man wissen, dass die spirituellen Texte der tiefgründigen Sängerin Evanescence zu Favoriten vieler christlicher Radiostationen, Websites und Presse-Publikationen gemacht hatten. Indizien für die Verquickung religiöser und weltlicher Interessen schien es in der Tat etliche zu geben: Die beiden Köpfe der Band, Amy Lee und Ben Moody, hatten sich im Alter von 13 bzw. 14 in einem christlichen Jugendlager kennen gelernt, und ihren Plattenvertrag unterzeichneten Evanescence bei Wind-up Records, jenem Label, das mit dem spirituell befeuerten Grunge von Creed Millionen machte. Und schließlich hatte Amy ausgerechnet mit Paul McCoy von der christlichen Combo12 Stones das Bestseller-Duett „Bring Me To Life“ eingesungen.

Doch die Vereinnahmung durch die organisierte Christenheit ging der Gruppe aus Little Rock gegen den Strich. „Zur Zeit sind wir hoch in den christlichen Charts“, meinte Moody spitz, „doch ich frage mich, was wir da zu suchen haben.“ Und seine Vokalistin pflichtete ihm bei: „Es gibt Leute, die glauben felsenfest, dass wir im Geheimen eine christliche Band sind und eine versteckte Botschaft haben. In Wahrheit aber hat unsere Musik keinerlei spirituelle Bindung. Wir sind offen für alle.“ Nach dieser deutlichen Distanzierung schickten düpierte christliche Vertriebe ihre Platten umgehend an Wind-up zurück. Äußerlich sieht die 21-Jährige mit ihren schwarz gefärbten Haaren, riesigen schwarz getuschten Augen, und schwarzen Klamotten aus wie ein Gruftie. Dazu passt auch der Name der Band: Evanescence bedeutet so viel wie Vergänglichkeit. Da ist es fast ironisch, dass die Popularität der Gothic-Metaller aus dem Mittleren Westen rapide zunimmt. Ihr Major-Debüt Fallen hat die Verkaufsmarke von einer Million längst hinter sich gelassen, es verbindet Amys flehenden Gesang mit ruppigem Crossover und sehnsüchtigen Pianoklängen. Doch genauso wenig wie einer Religion will sich die Band einem bestimmten musikalischen Stil zuschlagen lassen. „Wir sind sehr offen. Ben und ich mögen zum einen Tori Arnos und Björk, zum anderen Bands wie Korn und Tool. Hinzu kommt noch unsere Liebe zur Klassik und Kirchenmusik“, listet Frau Lee auf.

Nachdem Ben und Amy sich als Teens im Ferienlager getroffen hatten, verbrachten sie die Nachmittage zusammen, komponierten Lieder und schrieben Gedichte. Amys Erzeuger John Lee riet ihnen dagegen, Lynyrd Skynyrd-, Eric-Clapton- und Bob-Seger-Evergreens zu lernen und als Coverband Dollars zu verdienen. „Sie guckten mich an und sagten: ‚Dad, das ist Kunst.‘ Ich war ein totaler Idiot damals“, sagte er kürzlich selbstkritisch in einem Interview. Statt dem gut gemeinten Rat zu folgen, nahm das jugendliche Paar emotionsgeladene Demos und EPs auf. Im Jahr 2000 folgte sein Indie-Album Origin, das bei eBay inzwischen einen Preis von 300 Dollar erzielt. Gefragt nach ihren Texten antwortet Lee stets, sie handelten von der Erfahrung des Lebens und drehten sich um ernste Themen wie unerfüllte Liebe, Angst und Hoffnungslosigkeit – konkreter will sie nicht werden: „Ich habe eine Menge durchgemacht, doch das ist sehr persönlich. Wir wollen den Leuten sagen, dass sie mit ihren Gefühlen nicht allein sind. Ängste gehören zum Leben, auch zu unserem.“

Zurzeit kommt die kreative Schöne freilich kaum zum Grübeln, zählen Evanescence doch zu den gefragtesten jungen Live-Bands Amerikas. Die Gruppe – sie besteht neben Lee und Moody noch aus Gitarrist John LeCompt, Trommler Rocky Gray und Gast-Bassist Will Boyd – ist permanent auf Achse, doch das ficht Frau Lee nicht weiter an, denn: „Jahrelang hab ich in meinem stillen Kämmerlein gesessen und geschrieben, jetzt macht mir das Reisen Riesenspaß. Wir spielen stets vor ausverkauften Häusern, und so viele Leute zu berühren ist wundervoll.“

>>> www.evanescence.com