Mit Paula Hartmann und nand: So gut war der zweite Tag auf dem Reeperbahn Festival 2022
Unterwegs auf dem Reeperbahn Festival – irgendwo zwischen Festivalpreis, spannenden Newcomer:innen und düsterem Deutsch-Pop.
„Ganz ehrlich,“ ruft Johannes Jacobi, einer der zwei Moderatoren des „Helga! Festival Award“ ins Publikum, „es war ein richtiges Scheiß-Jahr für die ganze Szene.“ Alle im Publikum nicken, lächeln müde. Wahre Worte. Bei dem diesjährigen „Helga! Festival Award“ regiert die Tapferkeit – trotz schlechten Ticketverkäufen, Schulden und hohen Energiepreisen für die meisten Festivals wird geklatscht, sich gegenseitig unterstützt, nach vorne geschaut. Wie soll es auch anders sein. Als die „Fusion“ – eines der größten Festivals Deutschlands – im August 1,5 Millionen Schulden anmeldete, war auch der letzten Person klar: Kultur in der Pandemie hat ihren Preis. Und so wird bei „Helga!“, dem größten und wichtigsten Festivalpreis Deutschlands, nicht nur das beste Festival des Jahres gekürt, sondern auch der nachhaltigste Ansatz („Grünste Wiese“), das ausgeklügeltste Awareness-Konzept („Gemischteste Tüte“) und der beste Umgang mit Mitarbeiter:innen („Wohligstes Gewerkel“). Die Zukunft muss im Blick gehalten werden.
Endlich gibt es überhaupt wieder Auftritte, wo etwas schief gehen kann
Auch das Reeperbahn Festival hatte es in den vergangenen zwei Jahren nicht leicht. Europas größtes Clubfestival musste – genau wie alle anderen auch – zurückstecken, sein Programm verkleinern, auf bessere Zeiten warten. Dafür ist es dieses Jahr umso stärker zurück: Hunderte Musik-Acts in vier Tagen, unzählige Panels, Talks und Workshops. Das Festival gilt nach wie vor als Schaubühne und Plattform für Künstler:innen, die ihren Durchbruch noch nicht hatten und als Vernetzungsort für Menschen aus der Musik- und Veranstaltungs-Industrie. Und so geht es für mich nach dem „Helga! Award“ direkt weiter zu nand ins Mojo. Der 22-jährige Architektur-Student wurde mit seinem 80s-Wave-Track „Wohlfühlen“ 2020 quasi über Nacht bekannt und hat erst Ende August seine neue EP „Sonnenmilch“ veröffentlicht. Die Stimmung im unterirdisch gelegenen Club ist gut, das Publikum drängt sich nach vorne, doch der Musiker hat es heute nicht leicht. Erst verfängt sich ein Loop im DJ-Pult, dann ist die Trompete nicht richtig angesteckt, nand hört sich doppelt – die ersten zwanzig Minuten des Konzertes sind von technischen Problemen geprägt. Je häufiger der „Aperol Spritz“-Interpret Songs abbrechen muss, desto zittriger wird seine Stimme. Doch nand bleibt professionell – und das Publikum nimmt es gelassen. Endlich wieder Live-Musik, endlich gibt es überhaupt wieder Auftritte, wo etwas schief gehen kann.
Wo fällt die Liebe hin? Wo muss ich stehen um sie zu fangen?
Nach nand treibt es mich zu Paula Hartmann ins „Uebel und Gefährlich“ – der Club liegt im höchsten Stockwerk eines Bunkers an der Hamburger Feldstraße und ist genauso dunkel und kalt wie das Großstadtleben, das Hartmann in ihren Songs besingt. Die erst 21-jährige Sängerin singt in Songs wie „Truman Show Boot“, „Nie verliebt“ und „Veuve“ über die Verlorenheit der jungen Generation, zwischen billigem Wein und dreckigen U-Bahnen in Berlin. Sie scheint damit einen Nerv zu treffen. Auf Spotify hat die ehemalige Kinder-Schauspielerin eine halbe Million monatliche Hörer:innen, zuletzt hat sie einen gemeinsamen Song mit Casper sowie ihr Debüt-Album NIE VERLIEBT veröffentlicht. Sie beschreibt ihre Musik als „Märchen in der Großstadt“, nur ohne Happy End. Die Menschen im Publikum, die sich so nah wie möglich zur Bühne drängen, sind Anfang bis Mitte zwanzig. Paula Hartmann spricht die Dinge aus, die sie so nie formulieren könnten. Jede Textzeile wird mitgeschrien, die Hände sehnsüchtig in den Himmel gestreckt. „Wo fällt die Liebe hin?“, singt Hartmann, „Wo muss ich stehen, um sie zu fangen?“ antwortet das Publikum. In dieser Nacht standen sie alle genau richtig.