MUSIKEXPRESS goes Sziget, Tagebucheintrag 1, Donnerstag – Sonntag
Ungarn wird von Viktor Orbán regiert, aber das Sziget-Festival bleibt eine Insel der Freiheit. Aida Baghernejad berichtet für uns aus Budapest.
Es ist überwältigend. Anders kann man es nicht ausdrücken. Zelte überall, zwischen den Bühnen, direkt neben den Wegen, Toiletten, Sprachengewirr babylonischen Ausmaßes, ungarisch (klar), deutsch, englisch, spanisch, niederländisch.
Für junge Menschen aus ganz Europa und darüber hinaus – etwa die Hälfte des Publikums kommt aus dem Ausland, Journalist*innen aus Mexiko interviewen Fans aus Neuseeland, kasachische Besucher*innen tanzen mit ukrainischen Queers – ist es immer noch ein wahres rite of passage, zum Sziget zu kommen. Schließlich verspricht das Festival, das trotz des Festival-Booms der letzten Jahre immer noch zu den größten in Europa, wenn nicht sogar weltweit gehört, nichts geringeres als „Freiheit“.
Als „Island of Freedom“ versteht sich das Sziget, wie sein offizieller Untertitel schon seit Jahren lautet. Das mit der Insel ist klar: es wird ganz pittoresk auf einem parkähnlichen, mit viel Liebe zum Detail dekorierten Gelände auf einer Donauinsel abgehalten. Aber das mit der Freiheit wird komplizierter: in den letzten Jahren entwickelte sich Ungarn unter Ministerpräsident Viktor Orbán immer mehr in eine autoritäre Richtung, mit Ausschlägen in Richtung Rassismus, Homophobie- Trans- und Queerphobie. Wie geht das zusammen?
Das Sziget versteht sich als Gegenentwurf zu dieser Version von Ungarn: „wir stehen zu unseren Werten“ erzählt der CEO des Festivals Tamás Kádár bei einer Pressekonferenz. Auf dem überfordernd riesigen Programm gibt es Diskussionsveranstaltungen zu queeren Themen, Paneltalks zum Thema Nachhaltigkeit, Geflüchtetenpolitk – auf der Hauptbühne etwa hielt am Freitag der Schriftsteller und UN-Geflüchtetenbotschafter JJ Bola eine ergreifende Rede – und Workshops zu Vogueing, Dragshows und noch viel mehr. Viel Input, zumindest wenn man es schafft, sich an das Programm zu halten, denn Sziget bedeutet auch: sich treiben lassen und in den Massen verlieren.
Schon am Donnerstag, dem ersten Festivaltag von sechs, ist die Insel gut gefüllt. Euphorische junge Männer, die bei Viagra Boys den torkelnden Sebastian Murphy feiern, und eine begeisterte Crowd, die die ätherische Florence Welch von Florence + the Machine anhimmelt.
Überhaupt, Florence: in einem rosa Flatterkleid schwebte sie geradezu durch das Publikum vor der Hauptbühne, stieg in den Graben runter und schaffte es, sogar für einen halben Song lang die Menge dazu zu bekommen, ihre Handys in die Tasche zu stecken. Im Zeitalter der Influencerculture ein Ding der Unmöglichkeit.
So ähnlich war es auch bei den Jazz-Helden von Comet is Coming im „FreeDome“-Zelt. Allerdings ganz ohne Worte: Allein ihr Energielevel reichte aus, das nicht unbedingt jazzaffine Publikum völlig perplex vor der Bühne in seinen Bann zu ziehen. In einem Lineup, das eher auf Namen wie David Guetta, Yungblud und Imagine Dragons setzt, ein kleiner Kulturschock.
Wobei, die Sache mit den Kulturschocks, die ist nicht ganz unintendiert: Eines der Zentren des Festivals ist „Magic Mirror“, ein Spiegelzelt, in dem es um queere Themen, Partys und Leben geht. Seit über zwanzig Jahren, anfangs noch unter einem anderen Namen, ist es fester Bestandteil des Festivals – und wurde in der Zeit von rechten Medien und Politiker*innen angegriffen. Tut seiner Beliebtheit allerdings keinen Abbruch: Mittlerweile ist es neben den Hauptbühnen eine der wichtigsten Venue des Sziget. Tagsüber bei Diskussionsveranstaltungen wie „East of Pride“ am Sonntag, wo es um die Situation der queeren Szene in Ungarn, Estland, Litauen, Holland, Tschechien und der Ukraine geht, ist das Zelt noch mäßig gefüllt. Allabendlich kommt es aber um 23 Uhr zu einem Massenansturm: jeden Abend des Festivals gastiert dieses Jahr „Queenz – The Show with Balls“ im Zelt, eine Art Drag-Girlband-Revue, die so etwas wie das hotteste Ticket des Festivals sind. Orban würde kochen. Aber stattdessen kocht die Stimmung im Zelt, jeden Abend aufs Neue, wenn sich eine Stunde vor Beginn schon eine Traube vor dem Eingang bildet.
Aber neben Drag und Diskussionen geht es auf dem Festival natürlich auch um Musik. Und zwar von allen Seiten, all of the time. Von den Zelten, die teilweise am Wegesrand oder neben Bühnen aufgebaut sind, von kleinen und großen Ständen, und natürlich von den weit über ein Dutzend Bühnen, die überall auf dem riesigen Gelände zu finden sind.
Und auf denen lassen sich völlig unerwartete Musikperlen finden, wie etwa der ukrainische Punk-Klezmer-Hybrid Kommuna Lux oder Viah, ein tschechisches Elektro-Duo aus zwei jungen Frauen. Samstag nachmittag, eigentlich eine miese Zeit für jeden Festivalact, wenn die Camper noch verkatert im Zelt liegen und Tagesbesucher noch auf der Anreise sind, zogen sie auf einer winzigen Bühne am Wegesrand mit einem Mix aus ätherischem Gesang und Synth-Gewitter immer mehr und mehr Publikum, während parallel nebenan eine Pop-Up-Karaoke-Bühne Mimi Webb auf der Hauptbühne nicht nur in Sachen Lautstärke Konkurrenz macht. Zumindest was den Enthusiasmus des Publikums angeht, haben Viah und die Karaoke-Bühne klar gewonnen.
Aufgeregter ist das Publikum allerdings bei Webbs Kollegen Niall Horan, wie Harry Styles einst Mitglied von OneDirection. Wo Styles aber immer ein wenig Gefahr versprüht und mit queeren Elementen spielt, gibt Niall Horan der netten Jungen von Nebenan im Fifties Look. Nicht ohne Grund sieht die Bühne aus, als würden die frühen Beatles dort einen TV-Auftritt geben. Ganz anders wird es aber wenige Stunden später: David Guetta ballert in all seiner David-Guetta-Haftigkeit große und kleine Hits raus. Übergänge? Fehlanzeige. Musikalische Stringenz? Ebenfalls. Dafür gibt es dumme Sprüche, massenhaft Eigenwerbung und natürlich Feuer und Feuerwerk. Macht dem Publikum aber alles nichts aus: die Hauptbühne mit Platz für 65000 Menschen ist voll, mindestens 65000 Handys filmen das Spektakel live mit und das restliche Gelände wirkt wie leergefegt. Immerhin konnte man danach bei Moderat sich die Ohren ausspülen lassen, die in der Zeltbühne den elektronischen Gegenentwurf zu Guettas Selbstbeweihräucherung lieferten – es ist nicht alles verloren.
Das mit den musikalischen Gegenentwürfen ging auch am Sonntag so weiter: Gen-Z-Popnewcomerin Baby Queen wirkte mit all ihrer glitzernden Rotzigkeit wie ein Mittelfinger gegen die Welt von Guetta und Co. Auf seiner Hauptbühne spielte später dann die wunderbare Arlo Parks mit einer lässigen Selbstverständlichkeit zur goldenen Stunde. „Das ist die größte Bühne, auf der ich jemals gespielt habe“, erzählt sie sichtbar überwältigt von der Größe des Festivals dem Publikum, zu dem auch Kollegen wie Frank Carter & the Rattlesnakes gehören. Ähnlich überwältigt wie Parks, aber aus ganz anderen Gründen, sind wenig später M83: das FreeDome-Zelt ist bis fast ganz hinten belegt. Und auch die Band scheint sich zu fragen, wie das elf Jahre nach „Midnight City“ noch sein kann. Tja, Tiktok sei Dank.
„When you leave the bridge, Freedom stops!“, erzählt ein Besucher seinem Kumpel, auf dem Weg vom Gelände zu den Taxen, „no more freedom!“ Er lacht, vielleicht ein wenig bitter. Noch zwei Tage wird auf der Insel weiter die Freiheit gefeiert. Und ich bleibe für euch dran.