Nach Jahrzehnten westlicher Pop-Hegemonie entdeckt Europa nun ganz andere Klänge: keine Party mehr ohne Balkan-Pop!


„Live Earth“, London: Madonna bittet Eugene Hütz und Sergej Rijabzew von der Gypsy-Punk-Band Gogol Bordello zum gemeinsamen Ständchen auf die Bühne. Das ist kein Gag und keine Privatmarotte: Musiker aus dem Osten Europas – Rumänien, Bulgarien, der Ukraine und den Ländern des ehemaligen Jugoslawien – klopfen schon länger an die Tür zum Pop-Mainstream. In jeder Metropole dieser Welt gibt es mittlerweile Balkanpartys. Da flippt man nicht zu Techno-Loops oder krachigen Gitarrenriffs aus, sondern begeistert sich über kraftvolle und melodische Bläsersätze. Studenten, Indie-Fans, folkloristisch bewanderte Nerds, Rucksacktouristen, Punks, Hip-Hop- und Reggae-Anhänger – alle tanzen wie wild, während Pflaumenschnaps und Wodka in Strömen fließen. „Hier ist es nicht so verkrampft ernst wie in vielen In-Clubs“, meinen zufriedene Stammgäste.

Dass diese Euphorie irgendwann entsteht, konnte man ahnen, seit der „Eiserne Vorhang“ fiel. Westliche Booker und Weltmusikspezis stießen in Rumänien auf stimmungsvolles Umpa-umpa-täterä der Roma-Blaskapellen Fanfare Ciocarlia und Taraf de Haidouks, vermittelten Auftritte und Verträge. Jüngere Konzertbesucher staunten über die ungefilterte Energie dieser Musik. Einer davon war Stefan Hantel, der es als Shantel zuerst mit elektronischer Clubmusik probiert hatte. Dann begann sich der Mannheimer für die Musik seiner Großeltern zu interessieren, die aus Czernowitz stammen, rief den „Bucovina Club“ ins Leben, ließ Bands wie Gogol Bordello und Fanfare Ciocarlia auftreten und stand selbst am Plattenteller. Aus dem Club hat sich ein über Deutschlands Grenzen hinaus beachtetes Spektakel entwickelt. Shantels neues Album Disko Partizani lockt mit Gästen vom Balkan und aus dem östlichem Mittelmeerraum. Einflüsse von Reggae, Ska und HipHop gibt es obendrauf.

Auch den aus der Ukraine stammenden Eugene Hütz hat der Balkanvirus infiziert. In New Yorks bulgarischer „Bar Mehanata“ feiert er als DJ ausschweifende Partys, gerne auch als Mitglied von J.U.F. (frei nach D.A.F.: „Jewish Ukrainian Freundschaft“). Zwei Mitglieder von Balkan Beat Box komplettieren den Freizeitfetenverein: Ori Kaplan und Tamir Muskat aus Tel Aviv kamen in den 90oern nach New York. Das Leben dort hat ihre Musik geprägt: Balkan Beat Box treten in klassischer Rockbesetzung mit Gästen an Blasinstrumenten auf und benutzen elektronische Sounds als Grundierung. Grenzenlose Multikulturalität statt Authentizität auch bei der Londoner Band Oi Va Voi. Sie beteiligt sich an den „Radio Gagarin“-Abenden im Notting Hill Ans Club. Das Motto: „Balkan/Russian/Baltic/Gypsy/Klez/Mash/Trash/Kulturklash „. Als Band mischen Oi Va Voi Balkan, Massive Attack, Polka und Britfolk. „Auf dem Balkan war und ist die wohl beste Tanzmusik Europas zu Hause. Aber sie muss sich weiterentwickeln. Das bedeutet, Werkzeuge unserer Generation zu benutzen und Gefühle in englischer Sprache auszudrücken“, sagt Trompeter Lemez Lovas. Balkan-Pop – das bedeutet gelebte Völkerverständigung. Und macht vor allem einfach großen Spaß.