Nackert im Idyll

Draußen verkauft Udo Schnittblumen, hinter hohem Maschendraht reihen sich schwere landwirtschaftliche Maschinen auf. Hier ist fast alles ganz weit weg, man befindet sich mitten im Idyll. Rundum grüne Wiese. Wo die Stille wohnt. Oberbayern, kurz vor Weilheim, in einem Hinterhof. Umschauen, ein uraltes Konzertplakat von The Notwist an der Toilettentür fegt letzte Zweifel weg: Dies hier sind die quasi legendären Uphon Studios, Schnittstelle für interessante deutsche Popmusik der letzten Jahre. Drinnen in der Schnittstelle sitzen vier Jungsaus Ingolstadt am Esstisch, blicken müde aus dem Fenster, wo Udo gerade drei große Sonnenblumen an die Dame von der Plattenfirma verkauft. Heute wird das neue, das fünfte Slut-Album fertig gemischt. Sein Name: all you NEED ISSILENCE.

Das Gefrickel beim letzten Schliff lund das Konzert der Sportfreunde Stiller in der Münchner Olympiahalle am Tag zuvor, das ein Teil von Slut zum Freigang nutzte! hat die Band sichtlich mitgenommen. Rene Arbeithuber, der Keyboarder, ist deswegen auch schon nach Hause gefahren. Die Strapazen der letzten zwei Wochen am Mischpult seien allerdings nicht mit denen der Aufnahmen zum ersten Album for exercise and Amüsement zu vergleichen, meint Sänger Christian Neuburger. Damals habe man sich von einem Ingolstädter Bauern mit dem Wohnwagen nach Weilheim ziehen lassen, weil das Quintett unbedingt mit dem Produzenten Mario Thaler aufnehmen wollte. Obwohl die Übernachtungen in der undichten Behausung auf Rädern „im großen Regensommer 1006 „wahrlich kein Vergnügen waren, sind die Uphon-Studios zur quasi zweiten Band-Heimat geworden. Die Stille und das „unfassbare Idyll da vor den Fenstern‘ ‚haben Slut immer wieder zurückkehren lassen. Heute bilden die Ingolstädter zusammen mit der Uphon-Crew „ein sehr eingespieltes und vor allem sehr vertrautes, freundschaftliches Team. Das ist für uns etwas sehr Ausschlaggebendes. Jetzt mehr denn je, nachdem sich alles besser eingegroovt hat über die Jahre“, erklärt Schlagzeuger Matthias Neuburger. Und selbst an die beengten Schlafräume im ersten Stock haben sich die Musiker gewöhnt. „Ist ein bißchen wie Skilager“, meint Bassist Gerd Rosenacker.

Trotz Übermüdung ist die Stimmung gut, aber auch etwas unruhig und unaufgeräumt – im direkten Wortsinn, wie ein Blick in die Küche verrät: Die Müllsäcke hat immer noch keiner raus gebracht. Kochen hingegen muss jeder mal, und trotz unterschiedlicher Vorlieben Idie Lieblingsgerichte der Bandmitglieder findet man auf der Slut-Homepage wird man sich, wie Christian feststellt, „meistens schnell einig. Am meisten Rücksicht muss man auf Mario nehmen. Er hat einen Grundsatz: Er isst nichts, was aus dem Wald oder aus dem Meer kommt. Und dos schränkt schon ein bissert ein.“ Mario Thaler beschränkt auch jetzt Freiheiten -Redefreiheiten sogar, in dem er während des Interviews immer wieder einzelne Bandmitglieder ins Studio entführt. Außerdem tauchen auch noch Interview-Gaststars auf, es wird begrüßt und verabschiedet. Vorhang für Chefmischer Olaf O.P.A.L.: „Und, sehen wir uns heute abend in Ingolstadt?“ Olaf: „Nee, ich muss morgen in Berlin Rammstein mischen. „Abgang. Dann läuft Martin Gretschmann händeschüttelnd durchs Bild; keine große Sache: Schließlich unterhält Gretschmann alias Console sein eigenes kleines Studio im Uphon-Obergeschoss.

Es bleibt Zeit für Kaffee, Konditoreileckereien und weitere kleine Anekdoten, über das „gruselige Schulhaus in Tschechien „zum Beispiel, in dem Slut eine Woche lang wohnten und in einer „Klausursitzung“ erste Überlegungen zum neuen Album anstrengten. Dann verkündet Produzent Thaler, dass es noch genau 17 Minuten dauert: „Dann ist alles fertig!“ Ziemlich genau 19 Minuten später folgt tatsächlich der große Moment: Platz nehmen im Studio. Mario legt die Bänder ein. Sieben von zehn Stücken gibt es zu hören, „der Rest ist noch geheim“, sagt er. Zwischen den Liedern wird immer wieder getuschelt über soundtechnische Details. „Richtige“ Songtitel gibt es auch noch nicht, geschweige denn eine Reihenfolge oder einen Single-Kandidaten. Die Band steckt mental immer noch tief im Produktionsprozess und kann deshalb das Ergebnis selbst noch gar nicht einschätzen. Der unvoreingenomme Ersthörer stellt hingegen ganz einfach fest, dass dieses Album sehr kompakt rockt und sich auf die zwei Stärken der Band konzentriert: Christians Stimme und große Melodien. Beim Titelsong fühlt man sich gar an „Freude schöner Götterfunken“ erinnert. „Dieser Anklang war auch geplont“, sagt Christian und grinst: „Ziel war es, die Ingolstädter Nationalhymne, die es bislang nicht gibt, zuschreiben. Natürlich mit deutschem Text. Genug geflachst, gibt ja auch noch ernsthafte Themen zu bereden – z. B. die Texte. Von eben gehörtem „The Beginning‘ hat sich die Zeile „Let’s make war instead of love“ eingegraben. Slut – wie soll das denn zu verstehen sein? Christian erklärt: „Die Triebfeder war teilweise schon Wutundirgendwas Aggressives. Der Plattentitel all we need is silence hatmirdann textlich den Weg für den Rest der Lieder geebnet. „Lets make war ist natürlich metaphorisch gemeint. Heraklit hat in der Antike gesagt, dass der Krieg der Voter aller Dinge ist, hat es aber auch nicht auf den Krieg als Ereignis, sondern als Haltung bezogen. Und so könnte man das auch verstehen… – Ich bin mir noch nicht sicher, was ich in Zukunft auf diese Frage antworten werde, das ist jetzt der erste Versuch llachtl. Eine Trockenübung. „

Slut, das ist ohnehin schon immer eher eine Bauch- als eine allzu verkopfte Angelegenheit gewesen. Was nicht heißen soll, das man sich keine Gedanken macht, gerade über den musikalischen Rahmen, in dem die möglichst „plati- und attitüdenfreien“ Texte stattfinden sollen. Das in Tschechien vereinbarte Ziel: noch mehr Reduktion.

„nothing will go wrong war schon ein großer Schritt in diese Richtung, aber es geht noch besser, noch minimalistischer. Und das ist, glaube ich, jetzt passiert. Wir haben auf alles – Samples, Keyboards, Orgeln – verzichtet. Die Platte ist sehr nackert, aber dicht. Und das Live-Gefühl ist noch stärker“, zeigt sich Christian überzeugt. Einfach im Gefühl haben die Jungs nach den Experimenten der Vergangenheit inzwischen auch, wie die eigenen Songs klingen sollen. Christian erklärt: „Wir können einfach nicht mehr anders. Wir könnten auch eine Jazzoder Boogie-Woogie-Platte machen, trotzdem würdeman das Slut-Zeug durchhören. Bei uns haben auch nur die Lieder Bestand, bei denen irgendwas passiert mit uns und jeder denkt: Ui, toll!“

Bei aller Begeisterung für die Sache bleibt die Band für die Band immer nur die eine Seite des Lebens. Die andere Seite ist: Häuser bauen (Christian ist Architekt], andere Bands (Pelzig; Rainer und Rene], die akademische Laufbahn vorantreiben (Matthias], Artikel für Musikmagazine schreiben IGerdl. Zwischenzeitliche Sendepausen sind für Slut also kein Problem, sondern laut Christian sogar unabdingbar, denn „wenn alle nur die Musik hätten, war das zu eindimensional und jeder todunglücklich. Ich glaube, dass vieles, was in die Musik einfließt, aus ganz anderen, nicht musikalischen Ecken kommt. Wir haben während des Studiums anfangen, Musik zu machen. Und dieses zweigleisige Fahren haben wir einfach fortgesetzt. Das ist für uns olle wichtig, dieses Aus-den-Augen-Verlieren, etwas anderes tun und dann wieder zusammenfinden. Die ganze Zeit aufeinonderhocken und Musik machen, das wäre furchtbar, eigentlich meine Vorstellung von Hölle. Sagt’s und lacht.

Trotzdem existierte während der Aufnahmen zwischenzeitlich der Wunsch, gemeinsam in Urlaub zu fahren, wie Christian erläutert: „Wir haben vor zwei Wochen in der Zeitung so ein Pouschal-Scheiß-Angebot für Kenia gelesen. Und das war unser Lichtblick am Ende des Tunnels: sobald alles abgeschlossen ist: einfach weg. Eigentlich müssten wir morgen fliegen. „Stattdessen wird abgebaut, alles auf- und in den Kleintransporter eingeräumt. Heim nach Ingolstadt – feiern. Um sich dann mal erst mal wieder ein bisschen aus den Augen zu verlieren.