Neil Gaiman, der Rock-Star unter den Comic-Zeichnern, hört auf
„Nein“, lächelt Neil Gaiman, „an meine Träume erinnere ich mich nie. Ich wache morgens auf und das höchste der Gefühle ist, daß ich irgendwelche bunten Farben im Kopf habe. Aber das sind bestimmt keine Handlungsstränge oder gar fertige Geschichten.“ Und das, obwohl der Londoner, der seit etlichen Jahren in einem Nest in der Nähe von Minneapolis lebt, über nichts anderes als Träume schreibt und zeichnet. Der schlaksige Mann, der stets in schwarzer Kleidung anzutreffen ist, tut das seit mehr als sieben Jahren präziser: seit November 1988 – in dem monatlich erscheinenden Magazin ‚The Sandman‘. Über 2.000 Seiten hat der 35jährige mit seinen Traumsequenzen schon gefüllt, ehe er im November vergangenen Jahres das so Gaiman – „endgültig letzte Kapitel dieser Episode meines Lebens zu Ende brachte“.
Der ‚Sandman‘ ist kein literarisches Traumtagebuch im herkömmlichen Sinne, „sondern“, sagt Gaiman, „ein Comiczyklus, weil ich schon immer der festen Überzeugung war, daß Comics ein wichtiger Bestandteil der modernen Literatur sind. Man muß sie nur gut machen.“ Und das muß man Gaiman wirklich lassen — ‚The Sandman‘ ist verdammt gut gemacht. Mehr noch: Er bescherte Neil Gaiman Kultstatus und katapultierte ihn in die Rolle eines Pop-Stars unter den Comic-Machern. Nicht nur, daß Gaiman der Held von Musikern wie Tori Arnos oder Metallica ist – auch Literaturlegenden wie Norman Mailer sprechen dem introvertierten Sonderling höchstes Lob für seine Arbeit aus. „Fuckin‘ great“, äußerte sich Mailer begeistert, „der erste intellektuelle Comic der Welt.“ Alice Cooper ließ Gaiman das Cover seines letzten Albums ‚The Last Temptation‘ illustrieren und komplette Episoden schreiben, die sich in den Vereinigten Staaten als eigenständiger Comic sehr gut verkaufen. „Neil Gaiman“, schwärmt Alice Cooper, „ist nicht nur ein Seelenverwandter von mir, sondern ein echter Rock’n’Roller. Ein Mann, der Visionen hat und diese auch kreativ umsetzen kann.“
‚The Sandman‘ war immer als Epos mit offenem Ende angelegt, ein verschachteltes Labyrinth, in dem Geschichten zu neuen Geschichten werden, miteinander verschlungen, ein endloses Patchwork – dem Naturell der Träume entsprechend. Versatzstücke der griechischen Mythologie kommen darin ebenso vor wie Elemente aus der afrikanischen Folklore, auch aus der römischen und griechischen Sagenwelt und selbst Shakespears farbenprächtiger Mikrokosmos findet in Gaimans Traumland einen würdigen Platz. Das moderne Manhattan oder eine namenlose, futuristisch inspirierte Welt haben ihren Platz in dieser bizarren Gegenwelt.
Im Winter letzten Jahres hat Gaiman seine Aktivitäten für ‚The Sandman‘ endgültig eingestellt – obwohl es nach Batman und Superman die mit Abstand bestverkaufte Reihe des Comic-Giganten ‚DC-Comics‘ ist. „Nein“, schmunzelt Gaiman, „ich bin nicht ausgebrannt. Es wird nach sieben Jahren nur Zeit, daß ich mich mit etwas anderem als skurrilen Träumen beschäftige. Vielleicht ja mal zur Ausnahme etwas Realistischerem…?“
Noch ist Gaimans kreative Zukunft offen. Bis er darüber entschieden hat, können sich die ‚Sandman‘-Fans (und derer gibt es weltweit inzwischen Millionen) mit dem soeben bei ‚DC erschienenen Gesamtwerk trösten, das neben sämtlichen ‚Sandman‘-Veröffentlichungen auch Kommentare von Schreib-Größen wie Stephen King, Clive Barker oder Gene Wolf enthält. Eine würdige Hommage an einen Neuerer, einen Visionär, einen Revolutionär. Neil Gaiman allerdings läßt all diese Lobhudelei vollkommen kalt: „Ich tue nicht mehr als meinen Job.“