Neil Young
Neil Young, 47 Jahre alt, unrasiert, betritt mit wiegendem Trappergang das Konferenzzimmer ELBE EINS des Hamburger Atlantic Hotels. Er trägt verblichene Jeans, ein schwarzes T-Shirt und eine weiche hellbraune Fransenlederjacke, schüttelt mir die Hand und grinst über den Rand seiner Sonnenbrille: "Hi, Heinz! How are yer doin'?" Was folgte, war eines der angenehmsten Gespräche meines Berufslebens — mit einem relaxten, verschmitzten, auf würdige Weise erwachsen gewordenen Haudegen und Helden.
HEINZ RUDOLF KUNZE: Der geübte Neil-Young-Hörer weiß, daß es Brüche, Widersprüche und irritierende Kurswechsel in Ihrer Arbeit gibt In den letzten Jahren allerdings haben Sie vier Alben veröffentlicht, die doch eine ganze Menge gemeinsam haben: „Eldorado“, „Freedom“, „Ragged Glory“ und „Are Weld“. Mir scheint, mit „Harvest Moon“ vollziehen Sie nun die drastischste Kehrtwende Ihrer gesamten Karriere. Wie kam es dazu? Haben Sie mit „Weld“ das Ende eines bestimmten Entwicklungsstranges erreicht?
NEIL YOUNG: Ich habe die elektrische Seite meiner Musik bis zu einem gewissen Endpunkt getrieben. Die ,.Ragged Glory“- Tour durch die USA fand während des Golfkrieges statt. Es war eine bombastische Show mit gewalttätigen Obertönen; die Energie der Leute und unsere eigene schaukelten sich gegenseitig hoch bis an die Grenze des Erträglichen. Ich beschloß, diese Art von Musik nicht weiterzuverfolgen, es erschien mir nicht steigerbar. Außerdem brauchte ich Ruhe, ich konnte diese Art der Musikausübung physisch nicht mehr aushalten. Manchmal nahm mich die Lautstärke dermaßen mit, daß ich Angst bekam, zu hyperventilieren und ohnmächtig zu werden. Noch lange nach der Tour kamen mir alle Geräusche meiner Umgebung furchtbar laut vor.
HRK: Werden wir dieses donnernde Weld-Konzept hierzulande jemals live sehen können?
YOUNG: Kann durchaus sein. Ich weiß nicht genau, was ich als nächstes mache: Ob ich mit dem „Harvest Moon“-Programm und den Stray Gators riiberkomme oder schon wieder mit einer neuen Idee.
HRK: Ist der Titel „Harvest Moon“ mit seiner Anspielung auf Ihr kommzeriell erfolgreichstes Album nicht eine ziemlich große Bürde?
YOUNG: Nein, die Platte ist eine Fortsetzung, eine neue Auseinandersetzung mit den Themen von „Harvest“, mit den Erfahrungen aus 20 vergangenen Jahren. Außerdem sind es die gleichen Musiker. Alles fing an mit einem Song, den ich 1975 begonnen hatte; 1991 erst wurde er fertig. Die anderen Songs paßten gut zu ihm, und als ich mich fragte, mit wem ich die Platte aufnehmen wollte, fielen mir die gleichen Leute wie damals ein. Wir fühlten uns wohl miteinander, nach 20 Jahren Pause. „Harvest Moon“ war zunächst nur ein Songtitel, aber dann wurde mir klar: Dies ist die Platte, die das Publikum seit 20 Jahren von mir erwartet hat. So wurde „Harvest Moon“ zur Hauptidee: Ich wollte abbilden, wie ich mich heute fühle.
HRK: Alsoföhlen Sie sich zur Zeit eher relaxt, ausgeglichen?
YOUNG: Ja.
HRK: Lange Zeit, besonders während der 80er Jahre, waren Sie nicht bereit, die Erwartungen Ihres Publikums zu erfüllen. Warum? Fühlten Sie sich mißverstanden, aus den falschen Gründen geliebt?
YOUNG: Ich habe nie geglaubt, den Leuten das geben zu können, was sie von mir erwarten. Hätte ich’s versucht, hätte es nicht geklappt.
HRK: Hatten Sie vielleicht sogar im Hinterkopf, das Publikum zu erziehen, indem Sie ihm ein Beispiel von Eigensinnigkeit und Unbeugsamkeit gaben?
YOUNG: Ich erziehe mich selbst. Ich lerne, meinen Instinkten zu folgen. Anders hätte ich meine Arbeit nicht machen können. Ich habe keinen Plan. Keine Ahnung, was ich als nächstes tue. Zur Zeit habe ich keine neuen Songs im Kopf—eine sehr erfrischende Situation.
HRK: Macht Ihnen Ihr „planloses“ Vorgehen nicht manchmal Angst?
YOUNG: Überhaupt nicht. Es ist sehr befriedigend. Irgendwann setze ich mich wieder hin und fange an zu schreiben, das weiß ich.
HRK: Ich unterhielt mich mal mit Randy Newman über dieses Künstlerproblem. Er sagte, manchmal wäre er lieber Automechaniker oder Fleischermeister, weil die etwas gelernt haben, was sie Tag für Tag anwenden können — da gibt es nicht diese regel-lose Unsicherheit, die das Künstlerleben ausmacht.
YOUNG (grinst vielsagend): Na ja, meistens schwirrt schon irgendwas durch den Hinterkopf. ¿
Im Moment aber habe ich tatsächlich nichts vor. Das Album ist fertig, und das war’s. So kann ich endlich mal wieder an meinen Archiven arbeiten …
HRK: Sie haben Ihre Retrospektive schon vor langer Zeil versprochen …
YOUNG (lacht): Stimmt! Aber ich habe nicht gesagt, wann ich fertig sein werde. Ich sitze seit drei Jahren daran.
HRK: Glauben Sie, daß „Harvest Moon“ die große Versöhnung mit Ihren alten Fans bewirken wird?
YOUNG: Ich weiß ja nicht mal, ob die überhaupt noch leben!
H RK: Ich kenne eine ganze Menge deutscher Lehrerinnen in den Mittdreißigern, die Sie ßr Platten wie „Weld“ hassen, weil ihnen das zu starker Tobak ist.
YOUNG: 0 mein Gott (schüttelt erschünen den Kopf).
HRK: Was kann ein jüngeres Publikum, das vielleicht nur Ihre letzten Gitarrenrockplatten kennt, mit dieser neuen Platte anfangen?
YOUNG: Es wird mit einer anderen Seite meiner Arbeit konfrontiert und kann dann frühere Alben entdecken, auf denen ähnlich gearbeitet wurde. Die neue Platte kommt aber gar nicht so unvermittelt: Auf „Freedom“ gab es durchaus ähnliche Stücke wie jetzt. „Freedom“ war im Grunde aufgebaut wie „Rust Never Sleeps“ — beide Seiten meiner Arbeit kamen zum Tragen. Klar, manche Leute, die „Ragged Glory“ und „Are Weld“ lieben, werden mit der neuen Platte nicht warm werden. Aber im Grunde ist sie den härteren Sachen in ihrer melodischen Struktur ähnlich, nur anders dargeboten.
HRK: Sie haben oft gesagt, daß Sie die Reaktion des Publikums nicht allzu sehr interessiert. Ist das wirklich wahr — oder nur der Abwehrmechanismus eines Künstlers?
YOUNG: Naturlich ist die Reaktion des Publikums wichtig — in dem Moment, wo der Künstler ihm gegenübersteht. Aber nur dann. Sicher hilft es mir, in einem Konzert von den Leuten Zuspruch zu erfahren, aber damit hat sich’s dann auch. Wenn ich schreibe, denke ich nicht an ein Publikum. Klar, wenn ein Song fertig ist. denke ich manchmal: Oh, das wird ihnen gefallen, oder: Das werden sie wohl hassen. Aber dann ist es bereits zu spät, der Song ist fertig (lacht)! Die Songs sind meine Kinder. Ihnen muß es gutgehen, nicht der Nachbarschaft.
HRK: Als „Ragged Glory“ ______________ veröffentlicht wurde, schrieb die britische Musikpresse: Er hat wohl die guten Kritiken für seine harte Gitarrenarbeit auf „Freedom‘ 1 und „Eldorado“ gelesen. Haben Sie?
YOUNG (mit versteinertem Gesicht): Nein. Das zeigt wieder mal die selbstverliebte Haltung dieser Trottel, die glauben, mit ihrem Geschreibe die Arbeit eines Künstlers beeinflussen zu können.
HRK: Aber Ihnen ist bewußt, daß die Kritiker Sie wegen Ihrer Unberechenbarkeit lieben?
YOUNG: Na ja, diese Haltung ist eben nicht ganz so langweilig. Bei manchen Musikern kann man beruhigt die Plattenkritik schreiben, ehe man die Platte gehört hat, bei mir nicht.
HRK: Ihre Unberechenbarkeit ist also keine Geßlligkeitsübung, kein Ritual — Sie können tatsächlich nicht anders?
YOUNG: Nein, ich bin ein Instinktmensch. Das ist der Kern meiner Kreativität. Ich will und muß immer das tun, was ich tun möchte. Was mich an meinem Leben am meisten ärgert ist, daß ich aufgrund irgendwelcher Verpflichtungen nicht jede Idee sofort verfolgen und umsetzen kann. Ich höre einen Song — und habe keine Gitarre bei mir! Außerdem muß ich gerade jemandem wie Ihnen logisch zusammenhängende Antworten geben… schrecklich schwierig, manchmal…
HRK: Ich verspreche Ihnen, ich werde Sie nicht allzu lange aufhalten…
YOUNG:… oh, das ist schon O.K. Sie kommen im richtigen Moment. Im Augenblick hab ich ja keine Ideen (lacht). Zuhause betreibe ich ein Electronics Development Business. Ich entwerfe Konzepte und lizensiere sie an andere Firmen. Das ist kreativ, obwohl es mit Logik und Mathematik zu tun hat, und es macht Spaß. Ein gutes Gegengewicht zur künstlerischen Arbeit.
HRK: Man trifft nicht so oft Musiker, die sich in Mathe auskennen.
YOUNG: Mathematik und Musik, das ist das Gleiche. Nicht nur in der Klassik.
HRK: „From Hank To Hendrix“ – ist das ein Schlüsselsongför „Harvest Moon“ und vielleicht sogar ßr Ihre gesamte Arbeit?
YOUNG: Es scheint so; zumindest ist das ein Song, auf den mich alle ansprechen.
HRK: Wer ist mit Hank gemeint? Hank Marvin?
YOUNG: Nein, Hank Williams.
HRK: Ich hatte gelesen, Hank Marvin hätte Sie ganz am Anfang stark beeinflußt.
YOUNG: 0 ja. sehr. Der Titel würde auf diese Weise auch mehr Sinn machen, aber ich hab tatsächlich an Williams gedacht.
HRK: Wie, glauben Sie, wird die Schlacht zwischen „Gitarre“ und „TV“ ausgehen, von der Sie in „You And Me“ singen?
YOUNG (lacht nachdenklich): Ah, that’s a good one. Ich hoffe, die Gitarre gewinnt. Ich bin nicht sicher. Ich rege mich ständig übers Fernsehen auf, ich will nicht davon belästigt werden. Irgendwann während der 70er habe ich angefangen, in meinem Wohnzimmer ganz leise in mich hinein zu singen oder Gitarre zu spielen, immer liefen irgendwo Musik oder Nachrichten, es war nicht zum Aushalten. Früher hatte ich überhaupt kein Fernsehen, aber die Kids, die Frau, wissen Sie …
HRK: Schwer vorstellbar: Ein Nordamerikaner ohne Fernsehen?
___________ YOUNG: Ich könnte jederzeit darauf verzichten. Kein Problem. Wenn ich was sehen will, gehe ich zu anderen Leuten. Wir haben gerade unser Haus umgebaut, jetzt ist kein Fernseher mehr im Wohnzimmer. Überall sonst stehen freilich welche… in diesem Zimmer aber soll man sich unterhalten. Manche Men- ¿
sehen betrachten den Fernseher als ihren Freund! Ich mochte Elvis“ Art. mit dem TV umzugehen. Er war darin sehr originell.
HRK: Nämlich?
YOUNG: Er schoß auf Fernseher. Er hatte extra ein Gewehr dafür.
HRK: Na endlich — Ihre erste richtige Rock V Roll-Bemerkung!
YOUNG: Yeah! (lacht) Regelmäßig zerschoß er seine Fernseher. Immer wenn er frustriert war oder ihm eine Sendung nicht paßte.
HRK: In „Natural Beauty“ singen Sie von den Menschen, als hätten sie sich allesamt in Cortez The Killer (Hauptwerk seiner 75er LP „Zuma“) verwandelt.
YOUNG: Der Song wandert durch verschiedene Bereiche: Technologie, Geschichte, Konsumgesellschaft … und das alles geht in einem „stream of consciousness“ ineinander über. Vielleicht ist das das persönlichste Lied der Platte.
HRK: Nicht „Such A Woman“?
YOUNG: Nein, weil sich das nur mit einer Sache beschäftigt, einer ganz bestimmten Frau, besser gesagt.
HRK: „Such A Woman“ erinnert mich stark an John Lennons intensivste Hymnen an seine Frau.
YOUNG: Ja, da ist was dran. Der Gesang war first take. Überhaupt mag ich Songs eigentlich gar nicht singen, bevor ich sie tatsächlich aufnehme. Wenn ich einen Producer benutze, soll er sich darum kümmern, daß die Instrumente stimmen. Meine Vocals kriegt er nicht zu hören. Erst wenn das Band läuft. Warum sollte man seine Performance verschwenden? Die Essenz des Songs wäre verflogen, ohne daß man sie eingefangen hätte. Wenn die Sache auf Band ist, kann der Producer beurteilen, ob es gut ist, ohne daß man es ständig wiederholen muß. Ich gehe dann meistens weg und mache erst mal was anderes, damit ich meinen frischen Zugriff auf den Song nicht verliere.
HRK: Ich wußte doch, daß ich hier noch was lernen kann.
YOUNG (lacht): Natürlich klappt’s nicht immer beim ersten Mal. Aber ich bemühe mich.
HRK: In „Natural Beauty“ singen Sie: „A natural beauty should be preserved like a monument.“ In Ihrer Kampagne gegen das CD-Zeitalter definieren Sie den Klang ab solche „natural beauty“, die es zu schätzen gilt. Was genau sind Ihre Vorbehalte gegen die CD-Ideologie?
YOUNG: Eine Gegenfrage, und das ist gleichzeitig die Antwort: Wann hat, nach allgemeiner Meinung der meisten Leute, die seit den 60er Jahren Musik hören, die Rockmusik ihre Vitalität und Scharfe verloren? 1981, mit dem Aufkommen der CD. Die Musik hat weiterhin Schärfe, aber das Medium, auf dem sie transportiert wird, hat keine Tiefe mehr. Eine Verarmung der Sinne hat stattgefunden, ich empfinde es geradezu als grausame Körperverletzung. Clockwork Orange für die Ohren: Du mußt hören, aber du kannst nur hören, was sie dich hören lassen. Die technischen Unzulänglichkeiten der guten alten LP hätte man verbessern können. Können Sie sich noch daran erinnern, wie Sie früher vor den Boxen gesessen und Musik erlebt haben — einen Joint, einen Drink oder was auch immer dabei und dann: Musik? Machen Sie das noch so oft wie früher?
HRK: Nein, das muß ich zugeben. Aber vielleicht hat das auch was mit meinem Alter zu tun oder mit zu wenig Zeit.
YOUNG: Nein, nein! Das dürfen Sie nicht glauben! Vergessen Sie das! Sie sind jetzt viel sensitiver als früher, weil Sie viel mehr Erfahrung haben. Das hat mit dem Alter nichts zu tun. Früher hörten Sie und ich fanatisch und intensiv Musik, heute nicht mehr, weil wir betrogen werden. Und Sie geben sich selbst die Schuld, weil die Propaganda Ihnen vorgaukelt. CD’s hätten den bestmöglichen Sound. Vergleichen wir mal Sound mit Bild, einen 70mm-Film mit Video. Film zeigt Schönheit. Reichtum, Tiefe, Genauigkeit. Video dagegen besteht aus lauter gleichgemachten, angeglichenen Flächen — ohne Feinheiten. Oberflächlich sieht es gut aus, oberflächlich hört sich CD gut an, aber wir werden reingelegt. Alle Details werden wegplaniert. Wenn Sie eine Rolling-Stones-CD auflegen, hören Sie sicherlich „klarer“ und „mehr“ als vorher, aber gleichzeitig hören Sie in Wahrheit viel weniger, nämlich nur Oberfläche! Sie hören nicht mehr wirklich hinein in die Musik. Ein Himmel besteht aus Wolken. Vögeln, vielfältigen Schattierungen. Ein CD-Himmel besteht nur aus Blau.
HRK: Was also können wir tun — außer verbittert sein?
YOUNG: Eine ganze Menge. Allerdings ist es zu spät, die Entwicklung rückgängig zu machen. Wir müssen warten und die Dark Ages, in denen wir uns befinden, durchstehen. Time Magazine hat kürzlich berichtet, daß ein neues Molekül entdeckt wurde, das in elektronischen Bauelementen eine wichtige Rolle spielt: Organische Qualität mit digitaler Kontrolle, das könnte der Beginn eines neuen Zeitalters sein. Vielleicht sind wir im Jahr 2005 oder 2010 so weit, daß Computer die Kapazität haben werden, zu fühlen und zu denken. Musik wird davon profitieren. Dann wird es eine Qualität der Wiedergabe geben, die selbst das alte Analogverfahren übertrifft. All die Musiker, die zwischen 1980 und 2010 arbeiten, haben Pech gehabt: Ihre Arbeit wird verlorengehen und umsonst gewesen sein.
HRK: In dem Stück „One Of These Days“ singen Sie, daß Sie allen wichtigen Menschen Ihres Lebens einen Brief ab eine Art Bilanz schreiben wollen — „and it won’t be long“ bis dahin. Das klingt ein wenig so, ab spielten Sie irgendwie mit der Idee, sich zurückzuziehen.
YOUNG: Nein. Ich glaube, ich werde nie dazu kommen, diesen Brief zu schreiben.