Nein Sager


Popstars? Nein Danke! Junge Alternativ- Bands bevölkern die Charts und verkaufen ihre Anti-Haltung so gewinnbringend wie noch nie. Doch wo die Rebellion zum Marktfaktor wird, lauert der Gewissenskonflikt. Bleibt im Goldregen die Glaubwürdigkeit auf der Strecke?

DIE VORVÄTER: R.E.M.

Das Quartett aus Athens gilt vielen als Musterbeispiel einer alternativen Karrlere. Ohne Kompromisse sind R.E.M. mittlerwelle zu einer der erfolgreichsten Bands Amerikas geworden. Sie betreiben Ihre politisches Engagement ohne große Publicity und weigern sich seit vier Jahren, Ihre Top-Verkäufe mit endlosen Touren anzukurbeln.

DIE ERBEN: PEARL JAM

Die Seattle-Rocker sind mittlerwelle die Mega-Seller unter den Aiternatlv-Bands. Frontmann Eddie Vedder wird, ähnlich R.E.M.’s Michael Stlpe, von seinen Fans als Guru einer neuen Generation gefeiert und wehrt sich vehement gegen sein überzogenes Image:

„Ihr habt Euch den Falschen ‚rausgesucht. Ich brauch’den ganzen Rummel nicht.“

Früher war alles ganz anders. Wir erinnern uns: Ondulierte Langmähnen kutschierten mit Limos über den Sunset-Boulevard und ließen sich von Groupies ihre geschmacklosen Cowboy-Stiefel küssen. Posterstars an Teenie-Wänden strahlten in gestylter Schönheit und Nummer-Eins-Hits erzählten von einer anderen Welt. Heute ist der Alltag eingezogen ins Paradies: Hinter der glamour-glitzernden Fassade von Michael Jacksons Neverland tobt die billige Medien-Schlammschlacht um kleine Perversionen. Madonna kriegt die ersten Fallen und hechelt unter dem Decknamen „Girlie“ ihrer vor bereits zehn Jahren vollzogenen sexuellen Befreiung hinterher. Starfassaden bröckeln und — mal ganz ehrlich — wen kratzt es noch, ob nun Axl Rose seine Model-Freundin mißbraucht hat oder sie ihn?

Für Ersatz im sinnentleerten Star-System wurde vor zwei Jahren gesorgt. Die Retter hießen Nirvana, und die Löcher in ihren Jeans kündeten von einer neuen Zeit. Früher, als Kurt Cobain noch nicht von Hochglanzmagazinen zum ach so gefährlichen Anti-Star stilisiert wurde, besuchte er ständig Konzerte seiner Lieblingsbands. Die hießen zum Beispiel Beat Happening und sangen schon 1987: „A new generation from the teenage nation, this time we get it right.“ („Bad Seeds“.) 1993 hat sich die Prophezeiung zumindest in einer Hinsicht erfüllt — „Alternative Rock“ ist keine Alternative mehr, sondern maßgeblicher Marktfaklor. Soul Asylum, Stone Temple Pilots, Rage Against The Machine, Smashing Pumpkins hießen die Aufsteiger des Jahres, die meist diskutierten und heiß erwarteten Platten- ¿ NIRVANA STONE TEMPLE PILOTS SMASHING PUMPKINS RAGE AGAINST THE MACHINE LEMONHEADS PORNO FOR PYROS ALICE IN CHAINS SOUL ASYLUM PEARL JAM

Veröffentlichungen waren die von Pearl Jam und Nirvana. die großen Stars von morgen werden Lemonheads oder Soundgarden heißen.

„Wir leben in sehr unruhigen Zeiten. Es isl 1993, aber gemessen an dem, was geistig und politisch passiert, könnte es auch 1963 sein.“ Zack de la Rocha, Frontmann der stark links-politisierten Crossover Truppe Rage Against The Machine, mit der Kids auf Konzerten am liebsten antifaschistische Parolen skandieren, ist sich wohl zumindest in einem Punkt mit den intellektuellen Kulturbeobachtern einig, die sogar schon in seriösen Magazinen wie dem amerikanischen „Time“ den Wertewandel des Phänomen Pop analysieren. RATM und ihre Kollegen aus dem Untergrund funktionieren als Sprachrohr einer amerikanischen Jugendgeneration, die — frustriert, verstört und verängstigt — als Aussteiger den Ausweg sucht. Dazu haben sie sich einen jungen Präsidenten ins Weiße Haus gewählt, der ihre Hoffnungen trägt, dazu suchen sie sich musikalische Helden, die inhaltlich andere Schwerpunkte setzen.

In den Kreisen der aufgeklärten Rokker gibt man sich „politically correct“, nimmt Stellung gegen Rassismus, Sexismus, Zensur, Profitgier, sensationslüsterne Medien. Man singt über Tabus wie kaputte Familien, Kindesmißbraueh, Korruption oder ungerecht verteilten Reichtum und engagiert sich für Umweltschutz und soziale Zwecke. Man kommt selber aus zerrütteten Familien und kennt die Sorgen und Nöte seiner Zuhörer. Evan Dando von den Lemonheads weiß ein Lied davon zu singen: „Mein Vater verließ meine Mutter, als ich elf Jahre war. Ich fühlte mich von da an sehr alleine und war ziemlich aggressiv. Aus Enttäuschung heraus fing ich auch an, sehr laut Gitarre zu spielen.“

Alle Nirvanas hatten unter der Scheidung ihrer Eltern zu leiden und verbrachten ihre Jugend als angefeindete Außenseiter, auch Soul Asylum-Frontmann Dave Pimerund StoneTemple Pilots-Sänger Scott Weiland schreiben ihre kreative Energie dem persönlichen Jugendtrauma zu.

Doch daß sie immer anders waren als alle anderen und sich plötzlich trotzdem alle mit ihnen identifizieren können, stürzte die neuen Helden schnell in die erste Indentitätskrise. Weiland: „In meinen Konzerten sehe ich eine Menge Leute, die mich vor ein paar Jahren sicher nicht auf ihre Parties eingeladen hätten. „

Mit ihrer neuen Breitenwirkung wird das Geschäft für die Alternativen unkontrollierbar. Maßgeblich daran beteiligt ist natürlich MTV, das via massiver Video-Einsätze einige dieser Bands in wahnwitziger Geschwindigkeit ins Rampenlicht gerückt hat und sie obendrein dem Endverbraucher völlig unreflektiert zwischen Madonna und George Michael präsentiert.

Doch immerhin, das neue Bewußtsein kann sich den Sender auch zum Instrument machen, wie etwa das Soul Asylum-Video zu „Runaway Train“ zeigte. Der Clip, der bei MTV rund um die Uhr rotierte und den seit zehn Jahren aktiven Untergrund-Veteranen letztendlich zum Durchbruch verhalf, fordert Ausreißer dazu auf, mit ihren Angehörigen Kontakt aufzunehmen. Die Suchaktion war ein Erfolg, etliche Streuner meldeten sich. Soul-Asylum-Gitarrist Dan Murphy: „Die Probleme werden durch den Song z war nicht gelöst, oberes kamen etliche Menschen daraufhin wieder zusammen, und das war die Sache wert.“

Soul Asylums Polit-Bewußtsem erreicht jetzt die Massen, Dan Murphy glaubt, die Zeit ist überreif dafür. „Die 80er waren ein seichtes Jahrzehnt, die Leute waren nur mit Konsum beschäftigt, soziale Belange wurden ignoriert.“

Viel geändert hat sich daran bisher nicht, doch die Clinton-Regierung setzt andere Signale. Zur Feier ihres mit knapper Mehrheit durchgebrachten „Youth Service Bills“ gab es eine Party im Weißen Haus, als Liveband spielte Soul Asylum…

Für den Geschmack mancher Kollegen mögen Soul Asylum damit schon ein Stück zu weit ins Establishment vorgedrungen sein. Der Kampf um die Glaubwürdigkeitauf dem Weg vom Untergrund an die Oberfläche bereitet den neuen Rock-Protagonisten am meisten Kopfschmerzen. Denn, was macht ein antikommerzieller Punk-Ideologe, wenn er ob seiner Verkaufskraft auf einmal im Mittelpunkt des großen Geschäfts um die Musik steht? Und wie läßt sich die Weltsicht von unten bewahren, wenn sich auf dem Bankkonto die Millionen stapeln? Pearl Jam-Sänger Eddie Vedder, von Millionen Fans seit dem Debüt „Ten“ überschwenglich als neuer Rock-Prophet gefeiert, sucht den einfachsten Weg, um die Füße auf dem Boden zu behalten: „Einfach alles ignorieren.“ Doch diese Vogel-Strauß-Politik läßt sich nur in den eigenen vier Wänden praktizieren. Wenn Vedder heute auf die Straße geht, trägt er eine Maske.

Im Umgang mit dem Geschäft allerdings lernen Amerikas Spätpunker langsam ihre eigenen Regeln aufzustellen. Die Stone Temple Pilots schlugen beispielsweise Support-Angebote von Rock-Monstern wie Aerosmith, Coverdale/Page und den Scorpions aus und tourten stattdessen mit einer Insider-Kapelle wie Fishbone durch deutsche Clubs. Angesagte Bands dieser Szene als Vorprogramm zu gewinnen, sei „gar nicht so einfach“, beklagt sich denn auch Scorpion Matthias Jabs. „Mit einer Tour durch die Riesen-Arenen hätten wir viele unserer Fans enttäuscht. Wir gehen lieber in kleine Clubs, dort können wir die Tikketpreise niedrig halten und die Leute sehen uns aus nächster Nähe“, erklärt ¿

Dean DeLeo, Gitarrist der Stone Temple Pilots.

Schon vor zwei Jahren gingen Nirvana einen ähnlichen Weg. in dem sie etliche lukrative Offerten ausschlugen und gar nicht mehr tourten. just als „Nevermind“ am erfolgreichsten war. Immerhin, Cobain hat mittlerweile gelernt, die Narrenfreiheit seines neuen Lebens zu goutieren. Er ließ sich in Klein-Mädchen-KJeidern fotografieren und verpaßte Bassist Kris Novoselic im amerikanischen Fernsehen einen Zungenkuß. Und verlieh damit einem Teil seiner Ideologie Ausdruck, der in derTestosteron-schwangeren Rock-Musik so offensiv wie heute noch nie formuliert wurde: Im Minderheitenprogramm neuer Bands sind auch Frau en eingeschlossen. Bai zende Macho-Posen sind ihnen peinlich. Lemonhead Evan Dando bestritt seinen Auftritt beim englischen Reading-Festival in Rock und Rattenschwänzchen: „Ich habe immer gerne Kleider getragen. Ich glaube, alle Jungs täten es eigentlich gerne.“ Logische Konsequenz: Keiner von ihnen hat am Anfang die Bühne betreten, um im Mittelpunkt weiblicher Bewunderung zu stehen. Groupie-Exzesse sind tabu. Mit Attraktivität geschlagene Alternativ-Prinzen wie Soul Asylums Dave Pirner oder Lemonhead Evan Dando sehen ihren neuen Status als feuchte Mädchen-Phantasie eher mit Befremdung. Dando:

„Seit so viele kreischende Mädchen zu unseren Shows kommen, habe ich immer mehr das Bedürfnis, meine Zeil ganz alleine zu verbringen. Außerdem fände ich es billig und ekelhaft, mir einfach eine rauszugreifen, und zu sagen .Hey, komm mit. ‚ Ich könnte das niemals tun. “ Sanfte Worte von einem, der mit den Lemonheads eher Aussteiger-Philosophie repräsentiert als radikale Gegenpolitik. „Wie in den Secltzigern gibt es jetzt eine Menge Leute, die keine Lust haben au] Anzüge, Karriere und all den anderen Mist. Aber sie kommen trotzdem zurecht“, erläuterte Dando unlängst im „Spiegel“ die Weltsicht seiner Generation.

Mit solch vergleichsweise laschen Worten machen politische Hardcore-Bands am anderen Ende des Spektrums keine Musik. Rage Against The Machine sind bei dem japanischen Multi Sony unter Vertrag und attackieren das kapitalistische System auf unmißverständliche Art und Weise, wo es nur geht. Tom Morello, Saitenmann der GitarrenGuerillas, rüttelt mit Passion an den Grundfesten der USA: „Ich bezweifle, daß A merika das Land der Freien ist. Einige Leute haben die Freiheit zwischen Lamborghinis und Porsches zu wählen, andere können zwischen Mülltonen wählen, aus denen sie ihr Essen klauben. Wir fordern unser Publikum auf, kritisch zu denken und die allgemeine Gleichgültigkeit nicht mehr zu akzeptieren.“

Um gegen die andauernden Zensurbestrebungen der konservativen Elternorganisation PMRC zu protestieren, stand die Vier-Mann-Combo kürzlich in Philadelphia geschlagene zwölf Minuten splitterfasernackt auf einer Bühne vor 14.000 Zuschauern, Klebestreifen auf den Mündern und die Buchstaben PMRC auf die Oberkörper gemalt — in den notorisch prüden USA ein starkes Stück.

Der Tabu-Bruch fand während des Lollapalooza-Festivals stau, einer Art 90er Jahre Woodstock auf Rädern. Seit drei Jahren reist dieses Forum der neuen Alternativbewegung jeden Sommer durch mehr als 40 US-Städte und zieht vorwiegend blutjunge Vorstadt-Kids an. Das Musik-Happening beinhaltet nicht nur eine Anzahl stilistisch höchst unterschiedlicher Gruppen, sondern auch ein Zelt für freie Rede. Info-Ständer von Öko-Organisationen, AIDS-Aufklärungsaktivisten und Tierversuchsgegnern. Doch auch Lollapalooza ist natürlich Geschäft und hier stößt die junge Alternativbewegung wieder an ihre Grenzen. Alice In Chains waren eine der Bands von Lollapalooza ‚y3, Gitarrist Jerry Cantrell weiß also, wovon er spricht: „Jede Tour ist ein Geschäft.

Die T-Shirtpreise schrien zum Himmel undesgah Leute, die verkauften eine Flasche Wasser für zwei Dollar — da wollen einfach viele andere rnitwrdienen.“

Die Idee zu Lollapalooza stammt von Perry Farrell. Mit Janes Addicrion bewies sich Farrell ehedem als erster Held der Altemativ-Bewegung. Auf dem Höhepunkt der Karriere löste Farrell die damals erfolgreichste amerikanische Untergrund-Band auf. um sie und sich vor dem Ausverkauf zu bewahren. Mittlerweile hat der Trendsetter mit Porno For Pyros eine neue Band ins Leben gerufen. Daß viele Kritiker mittlerweile meinen, eine gute Idee sei zum Kornmerz verkommen, ärgert ihn maßlos.

„Ich fordere jeden Kritiker auf, etwas Besseres auf die Beine zu stellen. „

Lollapallooza ist jetzt schon ein Opfer der Zeit geworden, in der es lebt. So jung und aufregend kann heutzutage keine Bewegung sein, daß sie nicht in kürzester Zeit von findigen Finanzstrategen zum vermarktbaren Produkt reduziert werden könnte. Im Amerika ist „alternativ“ zum verkaufsfördernden Sricker geworden, mit dem mittlerweile schon Bier („mit dem alternativen Geschmack“) verjubelt wird. Kein Wunder also, daß sich die Protagonisten der Bewegung dagegen wehren, das ursprünglich für sie erfundene Label noch aufgedrückt zu bekommen. Soul Asylum beispielsweise weigerten sich, an der diesjährigen Lollapalooza-Tour teilzunehmen. Pirner: „Das ist mir zu trendy. Wir sind seit zehn Jahren unterwegs und hatten nie was mit aktuellen Trends zu tun.“

Soul Asylum war nur bestandig gut, unermüdlich und unbestechlich und hat darin sehr viel gemein mil der Band, die von den jungen Ideologen als Musterbild der Glaubwürdigkeit zitiert wird: REM.

„Sie waren sehr wichtig, weil sie die Dinge so machten, wie sie wollten“, sagt Soul Asylums Dan Murphy bewundernd.

„Die ganze Idee der alternativen Musik basiert darauf, nicht kontrolliert zu werden, weder von der Plattenßrma noch von der Öffentlichkeit. R.E.M. hallen sich von jedem Kommerz fern und sind dennoch mit acht Mio. abgesetzter Scheiben eine der verkaußträchligsten Bands Amerikas. „

Sich rar zu machen, um letztendlich die eigenen Ideale zu bewahren, ist allerdings eine Taktik, die erst in REM-Regionen funktioniert, ohne dabei gleich als PR-Strategie ausgelegt zu werden. Im Umgang mit den Medien suchen viele Alternative noch nach der eigenen Identität. Verweigern sie die Aussage, florieren Gerüchte. Zeigen sie sich allzu zugänglich, wird ihnen ihr Bild bald an jedem Kiosk in zigfacher Ausführung begegnen und so den morgendlichen Blick in den Spiegel erschweren. Pearl Jam Eddie Vedder, derzeit einer der größten Leidtragenden im unerwünschten Rampenlicht, drohte angesichts des wachsenden Drucks schon mehrmals damit, die Flinte ins Korn zu schmeißen, dem Business den Rücken zu kehren und künftig seine Songs auf Kassette für einen Dollar pro Stück im Eigenvertrieb zu verkaufen. Der kleine Unterschied: Der Mann meint meistens ernst, was er sagt. Und siehe da: um des lieben Friedens (und der nächsten Erfolgsplatte) willen, vergessen große Plattenfirmen tatsächlich ihre Marktstrategien. Auf ausdrücklichen Wunsch der Band, wird es so zur ersten Single-Auskoppelung aus dem neuen Pearl Jam-Album „Vs.“ kein Video geben. Im MTV-Zeitalter muß das den Vermarktem des Produkts ähnlich irnvitzig vorkommen, wie ein paar Millionen Dollar vom Empire State Building zu werfen. Vedder und Co kann’s egal sein, ihre Platte wird sich trotzdem verkaufen. Und wenn damit mal Schluß ist, plagen sie und ihre Kollegen keine Zukunftsängste: Ruhm, den man nie gewollt hat, so meinen sie, kann man nicht vermissen. Als Rockstars wollen sie alle nicht in Rente gehen. Kurt Cobain: „Ich werde nicht ewig reich sein. Ich habe jetzt Geld, aber in zehn Jahren wird das weg sein. Dann werd’ich mir wohl einen normalen Job suchen müssen.“