„Mist ist Mist, egal in welcher Sprache“
Bourani, Bendzko, Fischer, Naidoo, Rammstein: Es ist längst nicht mehr peinlich, auf deutsch zu singen. Rotz kann man dadurch schneller als solchen identifizieren - immerhin. Ein Streitgespräch über „Neue Deutsche Scheissmusik“.
Der Pop-Mainstream im Land ist längst in deutscher, ja deutschsprachiger Hand. Im Sommer reichte das sogar zu einer eigenen Schlagzeile: „Alle Platten in den Album-Top-Ten in deutscher Mundart!“ Die kleine Aufregung darüber ist längst wieder vorbei. Aber unseren (selbst ernannten) Deutschpop-Experten Arno Frank und Oliver Götz lässt der Boom keine Ruhe. Sie verrennen sich in ein Fachgespräch, an dessen Ende eigentlich nur eine Frage offen bleibt: Was um Himmels willen ist eine „deutschsprachige Hand“?
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OLIVER GÖTZ: Arno, am 23. Juni meldete Bild.de: „So deutsch waren die Charts noch nie!“ Die neuen Album-Top-Ten bestanden zum ersten Mal komplett aus deutschsprachigen Platten. Auf Platz 1 irgendein Schulhofrapper, auf Platz 10 eine Best-of von Pur und irgendwo dazwischen Sarah Connor, die jetzt auch keine Angst mehr vor deutschen Texten hat. Ihr Album heißt MUTTERSPRACHE. Ich habe da mal reingehört: Es ist nicht schlimmer als die neue Paul Kalkbrenner. Aber das kann ja nicht unser Anspruch sein, oder?
ARNO FRANK: Meinst du Bild.de? Kleiner Scherz. Aber trotzdem kein Wunder, dass ausgerechnet dem Zentralorgan des „gesunden“ deutschen Volksempfindens so was auffällt. Wir sind halt wieder wer, auch im Pop. Genügen uns selbst, erzählen uns unsere Geschichten in unserer Sprache. Und ich wette, dass Sarah Connor erstmals überhaupt einen Gedanken an das verschwendet hat, was sie da singt. Wenn ich auf Deutsch singe, ziehe ich eine allgemein verständliche Bedeutungsebene in meine Lieder ein. Und für die bin ich dann verantwortlich. Da kann sich ein stummer Kalkbrenner natürlich fein aus der Affäre ziehen. Wobei der auch ziemlich deutsch klingt, oder?
GÖTZ: Paule kriegt das schon so hin, dass sogar House irgendwie „deutsch“ klingt. Aber wie klingt eigentlich „deutsch“? Oder anders: Gibt es irgendeine „deutsche Popsprache“? Ich schlage da folgendes Vorgehen vor: Wir beantworten das entschieden mit Nein, dann haben wir das vom Hals und lassen uns einfach ein paar Leserbriefe hinterherwerfen („Aber der Neu!-Beat vom Dinger!“ „Was ist mit Nena?!“ etc.). Oder wir schieben das auf. Mir erscheint die Sache mit den deutschen Texten nämlich erst mal wichtiger. Der große Erfolg deutscher Produktionen ist ja offensichtlich vor allem damit zu erklären, dass es immer mehr Musiker gibt, die deutsch singen – und dass das nicht mehr peinlich ist. Oder (besser?): dass es uns nicht mehr peinlich ist.
FRANK: Du sagst es. Diese Unterhaltung hier hätten wir vor 150 Jahren noch auf Französisch geführt, weil uns das Deutsche peinlich gewesen wäre. So ist es auch mit dem Pop. Von Ausreißern abgesehen war es vor 15 Jahren einfach uncool, deutsch zu singen. Heute ist es umgekehrt fast peinlich, aufs Englische auszuweichen. So ging es mir mit dieser wunderbaren Gruppe aus Ingolstadt mit dem unfassbar dämlichen Namen: Slut. Die haben mal die „Dreigroschenoper“ vertont und es war der Wahnsinn. Danach veröffentlichten sie auf Englisch wieder ihren eigenen Kram und ich dachte: Menno. Wer etwas zu sagen hat, tut das auf Deutsch. Damit er verstanden wird. Sag mal, gibt es eigentlich einen einzigen deutschen Rapper, der nicht auf Deutsch rappt?
GÖTZ: Die meisten deutschen Rapper rappen nicht auf Deutsch. Zumindest in keinem, das mit Connors MUTTERSPRACHE oder dem ol’ Duden etwas zu tun hat. Das sind fremde Sprachen – das macht ja auch ihren Reiz aus. Aber: Haben die uns tatsächlich was zu sagen? Da geht’s ja doch immer wieder nur um Ehre und Nutten und Drogen, „Blaulicht und Zwielicht“ quasi. (Fast wie in der „Dreigroschenoper“, ha!) Pop-Rapper wie Cro verstünde man wiederum auch irgendwie auf Esperanto, oder? Und die „Pop-Liedermacher“: Bourani, Bendzko, Prosa, Poisel usw.? Muss man sie denn unbedingt verstehen? Aber vermutlich ging es dir auch eher um die Behauptung, die automatisch mit aufgestellt wird: Wenn er deutsch singt, hat er was zu sagen …
FRANK: Zumindest denkt er das. Ein Xavier Naidoo beispielsweise will doch spürbar wirklich „was rüberbringen“, so fragwürdig das sein mag. Wer auf geistigem Autopilot irgendeinen Sermon ablassen will, sollte das besser in einer exotischen Fremdsprache tun. Wenn ich von möglichst allen Deutschen verstanden werden will, muss ich mich ihrer Sprache bedienen. Deshalb singt Helene Fischer ihren Quatsch auch auf Deutsch. Dabei käme „Atemlos“ auf Französisch wesentlich süßer rüber …
GÖTZ: Ich weiß nicht. Französischer Gesang zu Discofox: Ist das besser? Ist ja nicht so, als gäbe es nicht genug Beispiele, wo auch Franzosen sich furchtbar am Pop verhoben haben …
FRANK: Das meine ich doch! Die Sauereien, die ein Serge Gainsbourg gesungen hat, klingen in deutschen Ohren wie Schmeicheleien eines frankophonen Schwiegersohns. Und der Mumpitz, den Rammstein mit ihrer betonten Teutonik so verzapfen, wird im Ausland mit einem gut verkäuflichen Grusel wahrgenommen. Anders gesagt, wenn Rammstein „Atemlos“ covern würden, klänge das für einen Engländer noch immer wie ein gebellter Befehl zum (nächtlichen) Überfall auf Polen. Aber reden wir über Charme. Kann es sein, dass wir den Charme unserer eigene Sprache entdeckt haben irgendwann? Wenn nicht im Rap, dann bei Tocotronic? Oder halt bei Lindenberg?
GÖTZ: Ganz sicher ist das so. Dazu brauchte es aber eben auch solche Umwege wie Lindenbergs „eigenartige Kunstgossensprache“, wie Frank Apunkt Schneider sie in seinem Buch „Deutschpop halt’s Maul!“ nennt. Es gab ja tausend gute Gründe, warum Deutsch niemals Popsprache werden konnte oder sollte, warum vor allem junge, progressive Geister sich lieber mit dem unverständlichen Englisch, den neuen Codes, der Ambivalenz des Pop einrichteten. Also brauchte es eigenartige Spielereien wie Lindenbergs Slang, um sich umständlich an die eigene Sprache heranzutexten. Beispiel Neue Deutsche Welle: Das meiste davon war Grütze. Aber selbst in den infantilsten Ausprägungen zeigte sich oft eine große Lust, Unfug anzustellen mit der deutschen Sprache. Dass (Deutsch-)Pop ab den 90ern, nach der Wiedervereinigung, tatsächlich staatstragende Funktion ausüben könnte, hätte damals kaum jemand gedacht. Als es dann so weit war, hörten wir ganz viel Blumfeld und Tocotronic – oder auch Absolute Beginner. Hat aber nix geholfen, oder …, Herr Delay?
FRANK: Ich kann immer noch ganze Strophen von BAMBULE auswendig, da kann Delay nicht so viel falsch gemacht haben. Hängen bleiben muss es halt, verdammt! Das heißt hierzulande dann gespreizt „Sloganhaftigkeit“ und wird Tocotronic zugeschrieben. Aber „Ein bisschen Frieden“ steht, finde ich, bei genauer Textanalyse „Give Peace A Chance“ nicht wesentlich nach. Das gilt insgesamt für den deutschen Schlager. Und wo du von der NDW sprichst: Die spielten noch! Die entkrampften „Marmor, Stein und Edelweiß“. Sich hinzustellen und „Da Da Da“ zu singen, das hatte Größe. Das irritierte. Und das blieb hängen. Übrigens: Wenn wir uns einig sind, dass der Boom erst nach der Wiedervereinigung einsetzte, ist es dann nicht seltsam, dass Pop und Rock aus Deutschland trotzdem davor schon blühten? Nur eben als Mundart? Doch, doch, ich rede von Bap! Die großen Themen, ernst vorgetragen, mit Pathos. Halt auf Kölsch. Das kann kein Zufall sein.
GÖTZ: Wohl auch einer dieser Sprachumwege. Aber – nee, jetzt lass uns bitte nicht über Bap reden! Sondern vielleicht darüber, dass Herr Delay dann eben doch so einiges falsch gemacht hat. Weil er unbedingt regierungsfähig werden wollte. Mir ist schon klar, dass nicht alle Popmusik in der Opposition stattfinden kann – das ist ja eigentlich ein Widerspruch in sich –, aber mir war es lieber, als der Mainstream weitgehend von fettem Gesumse aus den USA und dem UK beherrscht wurde. Jetzt sind die deutschen Charts fest in deutscher Hand, und nicht zuletzt das ganze dies begleitende Gerede über das Aufgeholthaben in Produktion und Songwriting und so weiter weist doch schon darauf hin, dass dort das Mittelmaß mit sich selbst Ringelreihen tanzt. Oder etwa nicht?
FRANK: Mag sein, dass wir eine „verspätete Popnation“ sind, wie Schneider schreibt. Aber auch eine verspätete Nation kommt irgendwann an. Wenn, dann weist dieses Gerede auf das Aufgeholthaben hin. Schon in den 80ern haben Queen oder ELO in München produziert, vorher waren Bowie und Eno in Berlin. Am Produktionsstandort kann’s nicht liegen. Und mal einen Blick auf die polnischen, italienischen, französischen, britischen Charts geworfen? Da fliegt mir auch nicht gerade das Blech weg. Und wenn wir schon von den Ländern deutscher Zunge reden: Historisch gesehen, ähem, gehört da nicht auch Österreich –
GÖTZ: Jetzt waren wir schon kurz davor, ein brauchbares Streitgespräch zu installieren („Ah, er spielt die Bap-Verteidigung!“), da kommst du mir mit dem „Produktionsstandort“ Deutschland und wirfst mir dann noch Bälle zu wie im Frühstücksfernsehen. Gut, fange ich sie halt auf: Ja, aus Österreich kommt dieser Tage sehr interessante deutschsprachige Popmusik, lieber Arno. (Ich glaube fast, unser Leser hat’s auch schon gemerkt.) Ist es das, was du hören wolltest?
FRANK: No. Ich will streiten. Ich sage: Mittelmaß ist Mittelmaß und Mist Mist, egal in welcher Sprache. Ich sage ferner: Warum sollten die deutschen Charts nicht mit deutschem Mist gefüllt sein? Immer dieses verschämte Wegschwänzeln, wenn es um Pop geht. Ich mag’s nimmer hören. Gib mir Wanda, das reicht. Gib mir nur irgendwen mit Haltung und Herzblut! Und hör mir auf mit den Charts, wenn du nicht über Produktionsstandorte reden willst. Also dann: Wann plaudern wir über Kunst, über Qualität?
„Von „Atemlos“ über „Tage wie diese“ bis zu „Ein Hoch auf uns“. Alles auf Platz 1, alles übler Ermächtigungsrotz“ (Arno Frank)
GÖTZ: Da müssen wir wohl raus aus den Charts. Obwohl: Casper, der ist ganz oben, und wer würde behaupten, dass dem Haltung oder Herzblut fehlten? Ich nicht. Und wie er sich Mühe gibt, das Grand Hotel Van Rage Against Well Soon zusammenzuwerfen, auf einen großen Haufen Gutes, ist das nicht schon große Kunst …?
FRANK: Aber ja! Ob’s gelingt, steht auf einem anderen Blatt. Über Geschmack kann man ja streiten. Worauf ich hinauswill: Rotz erkennst du in deutscher Sprache wesentlich besser als auf Englisch. Und mit Rotz meine ich reaktionären Rotz, von „Atemlos“ über „Tage wie diese“ bis zu „Ein Hoch auf uns“. Alles auf Platz 1, alles übler Ermächtigungsrotz. Und das höre ich halt wesentlich früher, als wenn Campino „On days like this“ sänge. Darum: Ein Hoch auf die deutsche Sprache!
GÖTZ: Aber ich behaupte, dass du und ich und alle anderen, die nach fünf Bieren noch eine Thees-Uhlmann– von einer Peter-Maffay-Platte unterscheiden können, das Reaktionäre auch schon vor der ersten Strophe erkennen dürften. Das ist quasi im Quellcode mit angelegt. Die musikalische Sprache ist im Zweifel immer noch ein Stück universeller – und das versteht die Zielgruppe eben auch sofort. Und freut sich noch vor der ersten Zeile! Hilft also alles nichts.
FRANK: „Sie liebt dich“ von den Beatles war auch nicht schlechter als „She Loves You“. Vielleicht würde es helfen, von guter Musik mit guten Texten zu reden? Habe mir gerade mal ein paar Lyrics von The Notwist ins Deutsche übersetzt. Die bleiben einfach gut, vage genug, andeutungsreich und poetisch. Ist das auch im Quellcode angelegt? Oder umgekehrt: Klängen Rammstein auf Englisch noch beknackter als in ihrer „Muttersprache“?
GÖTZ: The Notwist wären auf jeden Fall eine Band, deren Botschaften einen auch erreichen, wenn man kein Wort versteht: Zweifel, Entfremdung, das Glück des Moments – klingt durch jeden Ton. Dass Rammstein allerdings auch im Rest der Welt allein durch ihre Musik diese Ironie transportiert kriegen und das tief Abgründige, darf man bezweifeln. Das lässt ja nicht mal du gelten. Hast du da eigentlich mal richtig hingehört? Stellenweise lohnt sich das durchaus.
FRANK: Mag sein. Sprache ist aber doch mehr als nur der Inhalt der Texte. Und bei diesem gerollten „Rrr“ bin ich raus. Aus ähnlichen Gründen kann ich auch Max Raabe nicht ertragen, diese ironisch gelupfte Augenbraue und dieser „Hey, die 20er sind nicht vorbei, wenn du es nicht willst“-Gesang. Ich kann auch Rio „Ich bin sooo wütend, ey!“ Reiser nicht hören. Das ist mein ganz eigenes ästhetisches Problem, und das habe ich nur im Deutschen. Wenn ein Schotte schottisch das R rollt oder ein US-Südstaatler es verschluckt, klingt das immer schick. Du hörst die Nuancen, kennst aber deren kulturelle Bedeutung nicht. Wie arrogant Jarvis Cocker klingt, wie prollig Sleaford Mods … und was das bedeutet. Im Deutschen liegt es auf der Hand. Differenz und Distinktion, darum geht’s doch auch. Nein, ich will keine sächselnde Rockband hören. Warum eigentlich nicht?
GÖTZ: Weil du ein alter Regionalist bist? Weil manche Leute Sportsocken in Sandalen gut finden, aber die meisten eben nicht? Was weiß ich. Aber das Thema Ostdeutschland ist natürlich nicht uninteressant. Es gibt zahlreiche Ost-Acts, die es nach ganz oben geschafft haben: Clueso, Kraftklub, Marteria, Tokio Hotel, Silbermond, Jennifer Rostock usw. Es haben sich dort auffällig viele Bands gefunden, die so gar nicht den Eindruck machen, als würden sie einem Pop-Entwicklungsland entstammen – was die DDR aber ja war. Aber obwohl diese jungen Menschen fast alle schon mit den Segnungen von VIVA und profundem Englischunterricht groß geworden sind, singen sie fast alle deutsch …
FRANK: Wenn ich morgens mit gebrochenem Herzen im Nieselregen an der Haltestelle irgendwo bei Magdeburg auf den Schulbus warte, dann spricht mich „Durch den Monsun“ von Tokio Hotel womöglich direkter an als, sagen wir, „Hung Up“ von Madonna. Ich würde mit Karl Marx sagen, dass das Angebot die Nachfrage bestimmt. Das gilt auch für den Studentenpop von Tomte bis Kante. Plötzlich singen Leute wie ich in meiner Sprache über Sachen, die ich ganz genauso sehe. Gilt leider auch für „Tage wie diese“. Der deutsche Popsong ist idealerweise nicht von der internationalen Stange. Er ist für mich – für mich gaaanz persönlich – aufgenommen, auf meine Bedürfnisse und Befindlichkeiten ausgerichtet. Ein wenig wie ein Ford. Du weißt, das ist ein amerikanisches Auto. Aber es ist trotzdem hier hergestellt.
GÖTZ: Aber ich habe die Frage anders gemeint: Kann es sein, dass Pop aus Ostdeutschland deshalb bevorzugt deutschsprachig ist, weil er eben doch aus einem ehemals weggesperrten Land stammt? Und: Kann es sein, dass aus Ostdeutschland dann auch noch viel mehr Publikum dazugekommen ist, das sich in dieser aus der Not geborenen Tradition lieber an die grundsolide Kapelle vor Ort wendet als an eine Aerobic-Domina aus New York? Und das baden wir jetzt eben aus. Das wollte ich sagen … Aber vermutlich sitzt mein Arsch damit jetzt schon in den Nesseln.
FRANK: So ist es, und ich setzte mich gerne dazu. Aber mit der Einschränkung, dass es hier nichts „auszubaden“ gibt. Schau, es gibt doch auch so was wie den lyrischen Ohrwurm. Bei meiner Mutter war das „Ich will ’nen Cowboy als Mann“, bei mir sind es Zeilen wie „Das haben sich die Jugendlichen selbst aufgebaut“. Es ist ja nicht so, dass wir die von Pappnasen wie Heinz Rudolf Kunze geforderten Quoten hätten und es keine Möglichkeiten gäbe, etwas anderes zu hören als Die Toten Hosen und Grönemeyer. Think global, listen local!
GÖTZ: Wenn es nur so einfach wäre: Das allermeiste, was du dir local anhören kannst, ist bräsig und wohligtemperiert und reimt „Treue“ auf „Reue“. Und das haben wir eben davon, dass der Deutschpop „angekommen ist“. Endlich muss er sich nicht mehr reiben an der Sprache und an der Geschichte und produziert – „auf internationalem Niveau“! – Mittelklassewagenmusik. Unabhängig von irgendwelchen linken Positionen ist das einfach ein ästhetisches Dilemma. Sagst du: Dann hör dir halt was anderes an! Sage ich: Ja, aber die Tatsache, dass Deutschpop dermaßen Konjunktur hat, sorgt auch dafür, dass die Kanäle für interessante Sachen verstopft sind. In den 90ern wurden Acts wie Die Sterne über Majors vertrieben, weil die nichts Eigenes hatten. Doch wer ein weiteres Bataillon Revolverhelden in der Warteschlange stehen hat, braucht keine Sterne mehr.
FRANK: Ah, du hast also den Kanal voll. Zugegeben, die Allgegenwart der Mittelmäßigkeit geht mir auch auf den Zeiger. Ich würde aber schon sagen, dass sich Feine Sahne Fischfilet „reiben“, und sei’s am Establishment. Oder Wanda? Hopst da nicht auch der 18-Jährige in dir vor Freude im Quadrat? Um dahin zu gehen, wo’s wehtut, und weil ich weiß, wie wenig du von Balbina hältst … Dieses Spielerische klingt in den Ohren einer 16-Jährigen möglicherweise bedeutungsvoll und „fresh“. Oder nimm ein Stück wie „Vater“ von Anja Franziska Plaschg alias Soap&Skin. So was schon mal gehört irgendwo? Ich sage: Die Ausbuchstabierung von J.U.G.E.N.D. erlaubt keine großen Variationen. Du musst nur jung sein, um es lesen zu können.
GÖTZ: Bin ich also zu alt dafür. Hm, das hatte ich befürchtet. Den 16-Jährigen, die so was wie Balbina gehört hätten, hätte ich in meiner Jugend ganz sicher die Luft aus dem Hochrad gelassen, das darfst du aber glauben!
FRANK: Was ich sagen will: Wir müssen das Gold nur einfach aussieben, wie damals am Ufer des Klondike!
GÖTZ: Ja, ja, das war ja auch nie anders. Meine damalige neue Lieblingsplatte von Hallelujah Ding Dong Happy Happy habe ich 1991 ja auch schürfen müssen. Am Ende muss man wohl einfach feststellen – und das habe ich Albert, unserem Chefredakteur, entgegengehalten, der angesichts des aktuellen Booms den Begriff der „Neuen Deutschen Scheißmusik“ zu prägen versucht –: Weder ist deutsche Popmusik heute schlimmer als vor 10, 20 oder 40 Jahren, noch war Musik aus der Hitparade überhaupt jemals gut. Ausnahmen ausgenommen. Dass es einen aber eben noch ein wenig doller gruselt, wenn sich da am Gipfelkreuz nur noch Santiano und Frau Connor und Oomph! die Hände reichen …
FRANK: „Neue Deutsche Scheißmusik“, nur her damit, hehe. Wie Brian Eno gesagt hat: „Everything beautiful grows out of shit.“ Nicht manchmal – immer. Und je höher sie uns steht, die Scheiße, desto größer die Wahrscheinlichkeit, dass daraus etwas erwachsen wird, das aufräumt mit dem Mumpitz. Wie müssen dann nur eben den Hintern hochbekommen und uns auf die Suche machen. Aussieben, wenn’s uns wirklich interessiert. Interessiert es dich denn? Oder vergeht dir der Spaß bei zu viel Dreck?
GÖTZ: Du, mir macht ja sogar manches vom Dreck Spaß. An einer Pommesbude auf Rügen mit Santiano beschallt zu werden und davon für ein paar Minuten richtig fasziniert zu sein, das gehört auch zu meinen Poperlebnissen 2015. Vielleicht ist es ja so: „Es gibt keine schlechte Musik, es gibt nur schlechte Laune.“ (Wer’s braucht, darf „Laune“ hier aber auch durch „Drogen“ ersetzen.)
FRANK: Kennst du das, wenn dich jemand unablässig anquatscht, auf einer Party beispielsweise, dich in die Ecke drängt mit Pupillen klein wie Stecknadelköpfe und dir erzählt, was für eine VERDAMMT GUTE LAUNE er hat? Mir macht das schlechte Laune. Und da ist es wurscht, ob der Typ ein Engländer ist, ein Düsseldorfer im besten Alter oder Helene Fischer … Stille. Stille wird unterschätzt. Vor allem deutsche Stille, ohne jetzt allzu zenmäßig daherreden zu wollen …
GÖTZ: Du willst „Deutsche Stille“? Arno, ich fürchte, da wirst du höchstens im Programm vom Wave-Gotik-Treffen in Leipzig fündig.