Nicht noch eine Nacktparty!
Mehr als nur ein Trend: Schweden schickt immer mehr tolle Gitarrenbands ins Rennen. Gleich drei davon entspringen derselben chaotischen Provinz-WG.
Nennt mir Szenehochburgen der Gitarrenmusik von heute?: „New York!“, „Detroit!“, „Växjö!“ Wie bitte? „Ja. Växjö. Ausgesprochen Weck-chre! Schwedens Popstadt des Jahres!“
Schweden. Wir haben uns daran gewöhnt, dass regelmäßig Musik aus diesem Land zu uns herüberschwappt. An erster Stelle natürlich Abba. Deren Niveau wurde in den Eighties und Nineties zwar weder von Popacts wie Roxette, Ace Of Base oder Army Of Lovers, noch von Pudelmetallern wie Europe oder Hammerfall erreicht – doch seit den 90ern steigert sich nicht nur die Frequenz der eintreffenden Bands kontinuierlich durch Busladungen voller Schwedenpunks oder die weiterhin aktive Metalszene. Spätestens der Erfolg der Cardigans öffnete die Tür für Horden von Indiepop-Wikingern, ob sie nun Wannadies, Kent oder Hellacopters hiessen. In den letzten drei, vier Jahren nun geht es Schlag auf Schlag: The International Noise Conspiracy, The Ark, Eskobar, Fireside, The Soundtrack Of Our Lives oder The Hives sind nur einige Namen auf einer endlosen Liste von Drei-Kronen-Acts. Diese Wochen schliesslich stehen mit Releases von Newcomern wie The Sounds, Melody Club, Mando Diao oder den Caesars ganz im Zeichen des gelben Kreuzes auf blauem Grund.
Jetzt addieren wir dazu noch, dass Hitschmieden in Stockholm, Malmö oder Göteborg die Britneys und N*Syncs der Welt mit Megasellern ausrüsten – und voilà! Das Acht-Millionen-Einwohnerland im Norden ist nach den USA und England die Musikexportnation Nummer Drei unseres Planeten. Was die Frage aufwirft: Wie wird ein vergleichsweise so kleines Land zur Popnation? Wir gehen auf Spurensuche vor Ort.
Stockholm. Stadtteil Södermalm. Am Ausgangspunkt unserer Erkundungen stossen wir auf ein erstes Indiz: In der Einkaufsstrasse Götgatan passiert man auf 100 Metern durchschnittlich zwei bis drei Schaufenster voller Gitarren. Das sind mehr Musikfachläden als z.B. Schuhgeschäfte. Kaufen die Schweden mehr Gitarren als Schuhe? „Södermalm ist der Stadtteil der Musikindustrie. Hier stehen alle wichtigen Studios, hier wohnen die meisten Musiker“ erläutern Tobias und Mia, unsere ersten Gesprächspartner, bei Milchkaffee und Kuchen in „Wayne’s Café“. Tobias und Mia sind Itchycoo, und wenn alles nach Plan läuft, werden wir bald mit ihren ersten Singles in Radio und Musik-TV bombardiert. Itchycoo machen Poprock, der sich durch markante Breaks und verspielte Ideen auszeichnet. Kommerziell erfolgversprechend nicht nur der Sound – beide haben die „looks „,um demnächst auf einem Poster auf einer Wand in Deiner Nähe zu hängen und uns auf MTV entgegenzustrahlen.
„Kennengelernt haben wir uns auf der Musikakademie in Göteborg“ erzählt Mia. „An dieser Akademie lernt man Musical, Theater, Tanzen, Singen… man lernt, auf einer Bühne zu stehen und mit der Aufmerksamkeit des Publikums umzugehen.“
Tobias besuchte diese Schule offiziell, um Musiklehrer zu werden. „Aber eigentlich wollte ich immer nur Songs schreiben. Mia und ich ergänzen uns perfekt, wir spielen uns Ideen hin und her wie beim Ping-Pong.“ Diese Akademie – vielleicht ein erster Hinweis auf einen „schwedischen Weg“? Mia: „Musik hat einen hohen Stellenwert in Schweden. Schon in den 70ern, als Abba so erfolgreich waren – aber auch wieder seit Mitte der Neunziger – war Musik der drittgrösste Exportartikel des Landes. Schweden verdient gut an dieser Industrie. Niemand schaut Dich schräg an, wenn Du sagst, dass Du Musiker bist. Es ist ein respektierter Beruf.“
Bald werden Itchycoo der Heimat jedoch den Rücken kehren. Die Karriere der Newcomer soll von Köln aus in die Gänge kommen, näher zur deutschen Plattenfirma. Was werden die zwei vermissen? Tobias: „Unsere Freunde natürlich – aber auch das schwedische Fernsehen. Bei uns laufen die Filme im Originalton, nicht synchronisiert. Ich mag das.“ Und wir kombinieren: Aha! Schweden sprechen gutes Englisch und denken international, weil sie es von klein auf durch die Massenmedien aufnehmen. Sind Itchycoo, die das Handwerk Pop perfekt studiert haben, ein typisches Beispiel für eine schwedische Karriere?
Den Gegenentwurf treffen wir auf der zweiten Etappe. Im Hochgeschwindigkeitszug Stockholm-Malmö, der uns nach Växjö bringt. Mando Diao. Fünf wuschelfrisierte Lederjackenträger. Gustaf, Björn, Samuel, Carl-Johan und Daniel, alle zwischen 20 und 21, die neuen Stänkerer, die stylischen Rocksäue mit dem Top 5-Debütalbum. Die „neuen Stones/Hives“, die sich mit ihren Sprüchen schon die halbe Drei-Kronen-Szene zum Feind gemacht haben. Gustaf Noren, einer der beiden Sänger, setzt sich hinter uns. „Mit den ganzen anderen schwedischen Bands haben wir nichts gemeinsam.“ insistiert er. „Wir sind aus dem gleichen Land, so fucking what? Uns geht es um mehr. Wir spielen in einer anderen Liga. Wir kennen die anderen Gruppen kaum, wir kommen ja auch aus einem ganz anderen Teil Schwedens, aus Borlänge.“ Offenbar ein heisses Pflaster, Borlänge. „Eine trostlose Gegend, schmutzige Luft, hohe Kriminalität. Jeder, den Du triffst, ist dort erstmal Dein Feind. Deswegen betrachten wir auch jede Band als Gegner.“
Wir bleiben hartnäckig. Es muss doch Zusammenhänge geben. Es gibt doch auch in etwa gleich viele Österreicher wie Schweden, aber dort nur vereinzelte gute Bands. Schweden hat sogar ein staatliches Förderprogramm für Bands. „Jaja, die Regierung will den Rockbands reinpfuschen. Wollt Ihr Geld? Wir geben Euch Geld! Das passt uns gar nicht. Soul und Geld haben nichts miteinander zu tun.“ Nun heisst es ja, schwedische Bands seien grundsätzlich nicht originell. Sie ahmten immer nur bereits Vorhandenes sehr gut nach. „Aber das ist in Ordnung. Wenn Du nicht originell bist, komm damit klar und mach das Beste draus. Ich mag die Beatles und Nirvana. Ich will sein wie sie und ich will raus aus Borlänge.“ Das hat Gustaf geschafft, denn jetzt sind wir immerhin schon mal in Växjö angekommen. Die überschaubare Fussgängerzone scheint noch das Aufregendste in diesem 60.000-Einwohner-Ort zu sein – keiner würde hier eine vibrierende Poprevolution vermuten. Und doch, hier schlägt das Herz der schwedischen Bandkultur. Das glaubt jedenfalls der Radiosender P3, der das alljährlich wandernde Musikfestival „Popstad“ diese Saison hier ausrichtet. Das steht auch Schwarz auf Weiss in den schwedischen Hitparaden: Gleich zwei No.1-Acts der letzten Monate stammen aus Växjö: The Ark und Melody Club. Eine dritte Band, The Mo, hat bereits Achtungserfolge aufzuweisen.
Ausserdem verbindet diese drei Bands auch ein vergleichbarer Sound: Alle schreiben knallige, fetzige Songs mit Showelementen. Sie machen Laune – eine Eigenschaft, die im Indierock seit den frühen 90ern vergessen wurde. Die Växjö-Bands aber tragen schrille Klamotten, lachen auf der Bühne, scheren sich nicht um „Coolness“ und machen ihrem Publikum einen Heidenspass.
Will sich Växjö das stolz in sein Stadtbuch schreiben, gibt es allerdings zwei Schönheitsfehler. Erstens: Keine der drei Bands wohnt mehr hier. The Ark und The Mo sind nach Malmö gezogen, Melody Club leben heute in Stockholm. Alle drei erlebten ihren Durchbruch erst, nachdem sie Växjö den Rücken kehrten. Zweitens gab The Ark-Sänger Ola Salo kürzlich zu, dass die drei Bands sich bestens kennen – alle entstammen einer freakigen Wohngemeinschaft, die sich Mitte der 90er in einem heruntergekommenen Mietshaus einnistete – dem legendären „Festhuset“. Was genau das bedeutet, wonach es klingt: Fetenhaus. Es scheint, dies sei weniger die Szene einer Stadt als die eines einzigen Gebäudes, einer wahren Villa Kunterbunt.
Wir treffen The Ark-Bassist Leari auf der Eröffnungsparty des Festivals. Glücklich schaut er nicht aus, obwohl rings um ihn alle Größen der schwedischen Szene feiern, als gäbe es etwas zu gewinnen: The Sounds, Caesars, Looptroop, the Cardigans, Håkan Hellström, Hellacopters und und und prosten sich zu und fallen sich in die Arme. Amüsierst Du Dich nicht, Leari? „Es fühlt sich altes sehr komisch an. Jetzt bejubeln sie uns in Växjö. Aber damals wurden wir beschimpft und schikaniert.“ Du redest von den Festhuset-Zeiten? Leari, nicht mehr ganz nüchtern, grinst. „Wir haben alles ausprobiert. Und wenn ich sage alles, meine ich: Alles. In diesem Haus liefen die krassesten Dinge ab…“
Vielleicht können uns am nächsten Tag The Mo mehr darüber erzählen? Die vier Herren, die sich Nicko, Dixa, Otto und Ricky nennen und deren überdrehtes Debutalbum City Heart zu den befremdendsten Vergleichen der jüngsten Zeit führte („Spandau Ballet in einer Hüpfburg“), drängen sich um einen Tisch in der „Lokalbar“ in Växjös Innenstadt. Sänger Nicko wehrt ab: „Welche Geschichten kennst Du denn schon? Der Kühlschrank, der aus dem Fenster fiel? Das Motorradrennen im Hausflur? Das meiste über Festhuset wird besser nie erzählt.“ Bassist Otto: „Es war … ein Ort, wo junge Leute durchdrehten. Viele Mitglieder heute erfolgreicher Bands kamen dort unter, wenn sie gerade keine Bleibe hatten.“ Mit dieser Szene verbindet sie auch heute noch „dass wir unser Publikum eben gerne feiern sehen – und dass wir uns alle durchgebissen haben. Das ist das Besondere an den Växjö-Bands. Zu viele Bands geben zu früh auf.“
Verlieren wir aber nicht den gesamtschwedischen Zusammenhang aus den Augen. Auch The Mo sollen uns dem Geheimnis des Schwedenbooms näherbringen, so bekommen auch sie ein paar Fragen, die wir Mando Diao bereits stellten. Natürlich widersprechen sie deren Meinungen. „Bestimmte Harmonien – ich könnte sie jetzt nicht anders beschreiben als als ’nordische Harmonien‘ – findest Du schon in schwedischem Folk, dann in den 60s, 70s und heute im schwedischen Indiepop“ kontert Nicko z.B. die Nachahmer-These.
Kristofer Östergren hat gut Grinsen. Er darf sich wohl fühlen, schliesslich besetzt er mit seinem Melody Club gerade die Nummer Eins der schwedischen Albumcharts, Music Machine ist dabei ein Album, mit dem Ihr Eure Freunde erschrecken könnt: Mit höllischem Spielwitz plündern sich die Fünf durch den Synthiepop der 80s, versetzen diesen mit glitzenden Glam-Elementen und schaffen ein absolutes Popmonsterding. Ein Ding, das sich schamlos an einem Sound bedient, der noch immer als Gipfel der Geschmacklosigkeit geächtet ist. Im neuen Video zu „Covergirl“ haut ihr Drummer auf diese sechseckigen Pads, die selbst Phil Collins seit einigen Jahren zu peinlich sind. Und man kräht vor Begeisterung. Wie machen die das?
Kristofer ist in einer Situation, in der man wohl grinsen muss. Da kommt man zurück in die Heimatstadt, schläft aber nicht bei den Eltern, sondern bekommt ein Hotel bezahlt. Da geht man durch die Fussgängerzone und sieht alle 50 Meter sein Gesicht auf dem Cover der allgegenwärtigen örtlichen Stadtzeitung. Und da textet ihn und die Band in der Hotellobby dieser Deutsche zu, der sich tatsächlich für alte Festhuset-Geschichten interessiert und der in der lebenslustigen Wohngemeinschaft den Geburtsort eines neuen Sounds ausgemacht haben will. „Festhuset war ein altes, baufälliges Haus inmitten einer reichen Siedlung. Um uns herum nur Ärzte und Anwälte, denen wir ein Dorn im Auge waren. ‚Immer diese laute Musik! Nicht noch eine Nacktparty!‘ Die Polizei war oft da, weil uns alle für Junkies hielten. Die wussten eben nicht, dass wir keine Junkies waren, sondern The Ark, Melody Club und The Mo, Pläne schmiedend, mit unserer Musik die Welt zu erobern!“
Die Langfassung des Textes und mehr zum Thema unter: www.musikexpress.de/schweden