Nigel Kennedy: Ein Punk-Paganini hat den Bogen raus


Nigel Kennedy kennt keine Berührungsängste. Er spielt Vivaldis "Vier Jahreszeiten" genauso virtuos wie swingenden Jazz und fetzigen Rock. Mal musiziert er mit Kate Bush, mal mit Talk Talk, Chick Corea oder dem London Philharmonie Orchestra. Manfred Gillig traf den Sid Vicious der Violine, der als Großbritanniens erfolgreichster Geiger gilt und keine Grenzen zwischen den musikalischen Genres akzeptieren mag, in London.

Der Mann ist ein wandelnder Kulturschock – ein vielgepriesener klassischer Geiger, der aussieht, als käme er geradewegs von einer Garagen-Session mit seiner neopsychedelischen Underground-Combo. Sein starker Cockney-Akzent und die leicht lispelnde Aussprache passen perfekt zum Dreitage-Bart und zur struppeligen Stoppelfrisur. Graue Jacke, abgewetzte Jeans und ein buntes Flickenhalstuch vervollkommnen das Hobo-Outfit.

Ich versuche, mir diesen Paradiesvogel im schwarzen Frack auf der Bühne der Londoner Royal Albert Hall oder in der Berliner Philharmonie vorzustellen – no way. So wie er aussieht, hat er eher die vergangenen Monate an der Rolltreppe in der Subway-Station Piccadilly Square verbracht, wo er die vorbeihastenden Passanten mit gefälligen Geigen-Kunststückchen unterhält.

Aber keine voreiligen Schlüsse bitte: Schließlich zählt der 33jährige Geiger, der zehn Jahre jünger aussieht und wie ein 16jähriges Enfant Terrible auftritt, zu den erfolgreichsten jungen englischen Klassikmusikern. Immerhin schaffte er es mit seiner gefeierten Aufnahme von Antonio Vivaldis Konzert-Evergreen „Vier Jahreszeiten“ sogar, sich im vergangenen Herbst unter den ersten 50 Plätzen der englischen Pop-Hitparade zu etablieren.

Als flankierende Maßnahme veröffentlichte Kennedy überdies eine Single mit dem „Sommer-Konzert aus Vivaldis Geigen-Ohrwurm, auf der er als Zugabe noch „Summertime“ von George Gershwin geigte.

„Das war doch mal ’ne ausgefallene Hit-Single“, grinst er. „Es hat auf jeden Fall meinem Ego geschmeichelt, daß sie Vivs Meisterwerk sogar in den Pop-Programmen von Radio One, zwischen Kylie Minogue und Jason Donovan, spielten. Das ist monster, Mann. „Nigel sagt ziemlich oft „monster“. Damit drückt er seine Begeisterung aus. „Monster“ findet er beispielsweise seine Zusammenarbeit mit Kate Bush, auf deren Album THE SENSUAL WORLD er für die wohligen Streichereinheiten sorgte.

„Kate ist fantastisch; ich liebe ihre Platte. Wir haben sehr intensiv miteinander gearbeitet, und sie interessiert sich auch für meine Projekte.“

Aber Nigel hat noch einen weiteren Tip für mich parat: „Hör dir unbedingt mal das Album von Adult Net an; es gibt darauf ein paar herrliche Popsongs.“ Er muß es wissen: Die blonde Sirene Brix E. Smith, die Adult Net gründete, ist seine Freundin. Früher war sie mit Mark Smith von The Fall liiert. Brix lernte Nigel nach einem Konzert kennen, als er – immer zu einem Schabernack aufgelegt – im wahrsten Sinn des Wortes die Hosen runterließ: Er wollte seinen Bewunderern beweisen, daß er wirklich Unterhosen mit dem Emblem seines Lieblings-Fußballvereins Aston Villa trägt. Kennedy ist nämlich leidenschaftlicher Fußballfan.

Doch nicht nur dies: „Eine Zeitlang habe ich auch selber geboxt. Aber die ständigen Blasen an meinen zarten Fingerchen vertrugen sich nicht so gut mit den Saiten meiner Fiedel. Schließlich bin ich im Grunde eben bloß ein rechtschaffener, ernsthafter Fiedler.“

Mag schon sein. Aber welcher Kollege vom klassischen Fach nennt seine kostbare Stradivari – „die hat mir eine reiche Gönnerin gekauft; ich stottere jedes Jahr ein Prozent vom Preis ab, in 98 Jahren gehört sie mir“ – konsequent und mit kokettem britischem Understatement nur „fiddle“? Und wer sonst umschreib; seine streicherische Tätigkeit burschikos mit „doing some damage“ – „ein wenig Verwüstung anrichten“?

Ein wenig Verwüstung richtet Nigel gerne auch mit seiner eigenen Band an, die er London Wasp Factory nennt. Mit dieser „Wespenfabrik“ nahm er das Album LET LOOSE auf. Darauf fiedelt er munter im Jazzrock- und Fusion-Genre, denn er schätzt Leute wie Jean-Luc Ponty oder Sugarcane Harris hoch ein, „und demnächst will ich eine Plane mit Chick Corea aufnehmen.“

Auch mit Swing-Altmeister Stephane Grappelli verbindet Nigel eine enge Beziehung. Mit 14 kletterte der Sohn eines Cellisten einfach keck zu Grappelii. den er jetzt liebevoll-respektlos „Old Steph“ nennt, auf die Bühne und machte als Juniorpartner mit der Fiedel so eine gute Figur, daß der Senior ihn danach noch öfter zu seinen Auftritten in London einlud.

Berührungsängste kennt Kennedy wahrlich nicht – er hat alles vergeigt. Er fiedelte nicht nur mit Kate Bush, und er fummelt nicht bloß mit Brix Smith – er versorgte auch schon Paul McCartney und Talk Talk mit Streicher-Einheiten. Denn Pop und Rock, so meint Nigel, „haben heutzutage nun einmal den gleichen Stellenwert wie früher die klassische Musik. „

Auf das konservative Klassik-Publikum wirkt er mit seinen Stoppelhaaren und seinem saloppen Auftreten doch aber sicher wie ein Punk.

„Mag schon sein, daß ich manche Leute schocke“, meint er unbefangen und selbstbewußt. „Aber bisher hat sich noch nie jemand über mein Aussehen oder mein Verhallen beschwert, nachdem er erst einmal gehört hat, wie ich spiele.“

Im Gegenteil: Bernard Haitink, ein bereits älterer, seriöser Dirigent, schenkte dem jungen Partner nach einem gemeinsamen Konzert als Zeichen besonderer Anerkennung eine Flasche teuersten Champagners. Die steht jetzt zusammen mit 50 bis 60 weiteren, selbstverständlich leergetrunkenen Flaschen des edlen Sprudelwassers in Nigels Küche.

Seit ein paar Jahren sammelt er solche Trophäen wie andere Leute Bierdosen.