Nirvana: Die Revolution beginnt hier!
Vor genau 20 Jahren die erste Single von Nirvana erschien, sah niemand voraus, dass der "Seattle-Sound " wenig später den Rock'n'Roll umwälzen sollte - außer den größenwahnsinnigen Gründern ihres Labels Sub Pop. Tomasso Schultze zeichnet nach, wie sich im tristen Nordwesten der USA ein Sturm zusammenbraute, der den Weg bereitete für Nirvana und die Grunge-Explosion.
Wir waren irgendwo bei Tacoma am südlichen Rand des Puget Sound, als es uns den Motorblock zerriss. Ich weiß noch, dass ich so was sagte wie: „Wenn alles gut geht, sind wir in einer halben Stunde da.“ Und plötzlich schreckliches Getöse und unser roter Honda gab den Geist auf, 50 Kilometer vor unserem Ziel: Seattle, Rock City. Für 2.000 Dollar hatten wir ihn Tage davor in Santa Rosa erstanden. Die Lenkung neigte dazu, zwischen 80 und 90 km/h zu flattern wie verrückt, was uns zu Geschwindigkeitsübertretungen förmlich nötigte. Ab Tempo 100 schnurrte der Wagen wie ein Kätzchen. Es hatte keinen Grund gegeben, seine Leistungsfähigkeit in Zweifel zu ziehen, während wir auf unserer 1.300 Kilometer langen Reise endlose Wälder und schneebedeckte Berggipfel passierten. Doch nun saßen wir fest. Das Auto war tot, ein neuer Motorblock hätte unser schon empfindlich dezimiertes Budget annihiliert, einen gebrauchten Ersatz zu finden, dauerte eine Woche. Es war der 9. Juni 1989 und wir waren in einem Billigmotel an einem Autobahnzubringer im Norden des Staates Washington gestrandet, gezwungen, die Zeit mit den French Open im TV totzuschlagen, anstatt uns zu den – wie wir fanden – wichtigsten aufstrebenden Rockstars des Landes zu gesellen und mit ihnen um die Wette zu trinken.
Am schwersten wog, dass wir unser eigentliches Ziel verpassten: das erste „Lamefest“ in Seattle, ausgerichtet von dem Underground-Label Sub Pop an jenem 9. Juni. Mit den bereits zu Ansehen gekommenen Mudhoney als Headliner und zwei Hoffnungen des Labels im Vorprogramm: den Newcomern TAD und Nirvana. Ein dreiviertel Jahr zuvor, im November 1988, hatten Nirvana auf Sub Pop ihre erste Single „Love Buzz“ veröffentlicht. Dieser historische Event heute – erstmals sollte es lokalen Bands in Seattle gelingen, mehr als 1.000 Besucher anzuziehen – feierte nicht zuletzt die Veröffentlichung ihres ersten Longplayers bleach, TAD kamen mit ihrem Debüt God´s Balls. „For vegetarians only!“ hatte Sub Pop die beiden Alben in ureigener marktschreierischer Manier mit der gewohnten Mischung aus Selbstironie, Augenzwinkern und Chuzpe angekündigt. Und eine Stimme aus dem Off schrie: „Heiliger Jesus! Was sind das für gottverdammte Biester?“
Wir hatten’s also verbockt. Mit einiger Mühe hatten wir den Trip vorbereitet und mit Bruce Pavitt, Oberboss von Sub Pop, Interviews mit den „Lamefest“-Bands abgeklärt, die wir für die Fanzines „Trust“ und „Howl“ führen wollten. Die nötige Leidenschaft konnte man uns nicht absprechen. Zwar waren wir es aus Deutschland gewohnt, für Konzerte mehrstündige Autofahrten in Kauf zu nehmen. Aber 1.300 Kilometer? Das war neu. Doch der Einsatz schien gerechtfertigt.
Noch ein Jahr zuvor war der amerikanische Nordwesten ein schwarzes Loch gewesen, ohne nennenswerte Rockszene. Portland, die größte Stadt des Staates Oregon, 300 Kilometer von Seattle entfernt, konnte immerhin die Wipers um das Gitarrengenie Greg Sage vorweisen sowie die Hardcore-Veteranen Poison Idea. Aus Seattle kannte man dagegen bis Mitte der 8oer bestenfalls die Punk-Nihilisten Fartz (denen Duff McKagan angehörte, bevor er nach Los Angeles und einer Zukunft bei Guns N’Roses entgegen zog), und vielleicht noch The Accused, die im Thrashmetal Standards setzten. Dass eine Resolution des Commissioners von Whatcom County, „Louie Louie“ von Richard Berry zur offiziellen Hymne des Staates Washington zu machen, zwar den Senat passierte, dann aber im Repräsentantenhaus scheiterte, war 1985 die bedeutendste Rocknachricht aus dieser Ecke der Welt. Weder war der Öffentlichkeit zu diesem Zeitpunkt bewusst, dass im gleichen Jahr im Städtchen Aberdeen nahe Seattle der 18-jährige Kurt Cobain unter den Namen Fecal Matter mit einem Demotape (eingespielt unter Mithilfe von Dale Crover, dem Drummer der Melvins) erstmals Musik veröffentlichte, noch dass sich in Seattle selbst etwas zusammenbraute: Green River, Malfunkshun, Soundgarden und die Melvins bildeten eine Quadriga neuer Bands, die weder Punk noch Metal sein wollten, sondern an einem neuen Sound zimmerten, der von beidem zehrte: der die Wut und Energie von Hardcore-Punk, das pure Rockistentum der 70er und die Attitüde der Independent-Szene variierte zu einer Art Vision des Total Rock. Sie waren der Sprengstoff. Sub Pop war der Zünder. Die Explosion war Grunge, und sie ebnete zunächst Mudhoney, dann durch die Hintertür Nirvana, der Band dieses Kurt Cobain, den Weg zur bis heute letzten wahren Revolution der Rockmusik.
Vom Fanzine zum Label der Stunde
Sub Pop war eine Erfindung von Bruce Pavitt. 1980 hatte er als Student am Evergreen State College in Olympia nahe Seattle das Fanzine „Subterranean Pop“ ins Leben gerufen. Es unterschied sich nicht wirklich von anderen Fanzines dieser Zeit, die in ganz Amerika in lokalen Szenen aus dem Boden schössen, um Underground-Musik zu unterstützen, die von der Musikindustrie links hegen gelassen wurde. Es ging darum, das Wort zu verbreiten. Pavitt entdeckte, dass er gut darin war, den Studenten zu vermitteln, dass es in anderen Städten Bands gab, die aufregende, andere Rockmusik spielten, ohne auf die Charts zu schielen. Sein Heft und drei im Verbund veröffentlichte Tape-Compilations mit Aufnahmen der Bands, von denen der eloquente Pavitt schwärmte, waren erfolgreich genug, dass er sich den Umzug nach Seattle leisten konnte. Dort eröffnete er bald einen eigenen Plattenladen, machte Werbung für sich und seine Lieblingsmusik als DJ bei einem Indie-Radiosender und lernte als Autor einer nunmehr „Sub Pop“ betitelten Kolumne im Stadtmagazin „The Rocket“ etwas Grundlegendes: Wer klotzt, sagt vielleicht nicht immer die Wahrheit, aber er kommt damit weiter und hat mehr Spaß als der, der in aufrichtiger Bescheidenheit vor sich hinkleckert.
Pavitt hatte einen Traum, eine Vision davon, dass seine Stadt, ein Mauerblümchen im vernachlässigten Nordwesten der USA die Hauptstadt des Rock’n’Roll werden sollte. Schritt Nummer eins war die Veröffentlichung der ersten Platte seines Labels: sub pop 100, ein Sampler im Stil seiner früheren Tapes, der US-Underground-Größen wie Sonic Youth, Scratch Acid, Skinny Puppy und Naked Raygun mit Bands aus dem Nordwesten wie den U-Men und den Wipers vereinte. Zunächst ging es Pavitt darum, den Underground der USA an Seattle zu verkaufen. Dann änderte er die Stoßrichtung: Jetzt wollte er Seattle an die USA verkaufen. Es gab die Bands, er sah das Potenzial. Was es nicht gab, war eine Szene, ein Netzwerk: Der eine Club, das „Off Ramp“, in dem regelmäßig Gruppen vor einem Mini-Publikum auftreten konnten, machte nicht viel her. Gemeinsam mit seinem neuen Kompagnon Jonathan Poneman, einem Radio-DJ, der ihm 1987 von Soundgarden-Gitarrist Kim Thayil vorgestellt worden war, fing Pavitt an, seine Vision in die Tat umzusetzen, ohne sich dabei von der Realität beirren zu lassen. „Pavitt und Poneman waren die ersten, die mir sagten, dass Seattle riesig werden würde“, sagt Chris Cornell, damals Sänger von Soundgarden. Was genau sie Ende der 80er zu dieser vermessenen Aussage veranlasste, weiß auch er nicht. Den beiden reichte es, dass Pavitt Funhouse von den Stooges verehrte und Ponemans Herz für Pet Sounds schlug. Auf diesem Fundament sollte ihre „Sub Pop Rock City“ errichtet werden.
Ein kurzer, aber wichtiger Einschub
Wer nicht den Mainstream bediente, hatte einen schweren Stand in der amerikanischen Musikszene der 80er. Alternativen zum Massengeschmack gab es in den USA bestenfalls in den Metropolen. Und selbst dort hatte man es als Band ohne Lobby schwer, wenn man nicht den gängigen Vorstellungen entsprach. Eine Vorreiterrolle nahmen die Punker Black Flag ein, deren legendärer Arbeitsethos sich unter anderem darin niederschlug, dass sie eigentlich immer auf Tour waren und im Stil todesmutiger Einzelkämpfer auch da spielten, wo niemals zuvor Bands aufgetreten waren. Black Flag verwandelten das Brachland USA in eine Wiese mit zarten Trieben. Sie waren für den US-Underground, was der Auftritt der Sex Pistols in der Lesser Free Trade Hall 1976 für Manchester gewesen war: Sie bereiteten den Weg. Wer Black Flag sah, wollte selber in einer Band spielen, ein Fanzine herausgeben, Konzerte organisieren, im Radio ungewöhnliche Musik auflegen. Spread the word. Lokale Szenen begannen aufzublühen. Die Replacements machten Minneapolis zum Begriff, R.E.M. Athens. Zuvor waren Black Flag durch diese Städte gerauscht, mit befreundeten Bands wie den Minutemen und Hüsker Dü. Die Wirkung von Greg Ginns gnadenlos verzerrten Gitarren und von Henry Rollins‘ vernichtenden Vocals auf die Szene von Seattle ist nicht zu unterschätzen. Selbst ihr Äußeres – lange Haare und Klamotten von der Heilsarmee – war ein Statement, das ankam. Proto-Grunge, Leute.
Ende des kurzen, aber wichtigen Einschubs.
Mittelpunkt der Bestrebungen von Pavitt und Poneman war das Schaffen einer Identität. Sub Pop sollte eine Marke werden, wie all die erfolgreichen Independent Labels der amerikanischen Popmusik Synonym und Qualitätsgaranten waren für die Musik, die sie veröffentlichten. Pavitt schwärmte für Motown, Stax, SST, Dischord und Touch&Go, die in ihren Veröffentlichungen den kommunalen Charakter der Musik betonten und auf hohen Wiedererkennungswert setzten. Die Architektur der Vorbilder wurde in den ersten Sub-Pop-Veröffentlichungen -screaminglife, der Debüt-EP von Soundgarden 1987 und Rehab Doll, dem einzigen Album von Green River, veröffentlicht im Juni 1988 -, akribisch nachempfunden. Pavitt und Poneman setzten auf auffällige Grafiken und betonten den Aspekt Seattle.
Die anderen Konstanten waren ebenso wichtig: Alle frühen Sub-Pop-Releases wurden von Jack Endino, Gitarrist der Hawkwind-inspirierten Spacerocker Skin Yard, produziert, der in den 1985 von ihm gegründeten Reciprocal Studios auf Mätzchen verzichtete und auf seinen Acht-Spur-Aufnahmen den Rock betonte. „Es bestand ganz offensichtlich ein Bedürfnis nach einer ganz besonderen Art von Rockplatte, die nicht zu glatt produziert sein sollte“ sagt der Mann, den sie in der lokalen Presse einst „Godfather ofGrunge“ nannten, 2008 im ME-Interview. „Man darf nie vergessen: Es waren die 80er. Viele der teuer produzierten Platten von damals klingen heute schrecklich, weil sie hoffnungslos überproduziert sind. Das war nie mein Ding. Ich mochte den sauberen, klar definierten Sound der 90er – die Platten haben einen zeitlosen Klang. Das war die Lektion, die ich gelernt habe: Produziere einfach, sei ehrlich dabei, und du liegst nicht falsch.“
Sämtliche Fotos und Promobilder von Sub Pop stammten von Charles Peterson, einem jungen Punkfan Anfang 20, der mit Pavitt aufs College gegangen und mit Green-River-Sänger Mark Arm befreundet war. Seine Spezialität waren exorbitante Livebilder, direkt vor der Bühne, gern inmitten ausrastender Fans geschossen, oft mit Blitz und dennoch langer Blende. So entstanden die berühmten Aufnahmen mit wilden Lichtschlieren, gereckten Fäusten, fliegenden Leibern und Mähnen zotteliger Haare, die die Hitze des Moments betonten und ein Gefühl für das unkontrollierbare Chaos auf Konzerten vermittelten.
„Ich mochte die klassischen Punkfotos aus dem 100 Club, fühlte mich selbst aber eher klassischen Schwarzweiß-Fotografen wie Henri Cartier-Bresson oder Robert Frank verpflichtet“, sagt Peterson, mittlerweile 44. „Es ging ihnen immer um die Echtheit des Augenblicks. Das habe ich versucht, auf meine Fotografie zu übertragen.“ Selbst langweilige Bands ließ Peterson gut aussehen. Bei den aufregenden gelangen ihm Schnappschüsse für die Ewigkeit. Pavitt, Poneman, Endino, Peterson – die Säulen standen. Dann kam die Band, auf die Sub Pop gewartet hatte. Nicht Nirvana. Noch nicht. Bald.
Die erste große Erschütterung im Zentrum der Macht hieß Mudhoney. Sie verbreiteten die Kunde des Grunge in der Welt und ließen den rockinteressierten Teil der Menschheit den Blick gen Seattle richten. Sänger Mark Arm und Gitarrist Steve Turner hatten sich ihre Meriten zuvor bei den Lokalmatadoren Green River verdient, die sich intern nicht über die kommende musikalische Marschrichtung verständigen hatten können: Gitarrist Stone Gossard und Bassist Jeff Ament, wenig später erst bei Mother Love Bone, dann bei Pearl Jam, schielten mit einem Auge in Richtung Guns N‘ Roses. Arm und Turner hatten eher Krach im Sinn. „Es war der alte Konflikt: Punk vs. Plattenvertrag bei einem Major“, resümierte Arm später. Also zogen sie den Stecker und gründeten Anfang 1988 mit Bassist Matt Lukin, vormals bei den Melvins, sowie Dan Peters am Schlagzeug Mudhoney. Im Mai erschien ihre erste Single, „Touch Me I’m Sick“, mit dem berühmten Toilettencover, gepresst auf kackbraunem Vinyl – das „Smells Like Teen Spirit“ vor „Smells Like Teen Spirit“, die Lärm gewordene Absichtserklärung von Sub Pop, die in einem wilden weißen Rauschen aus Superfuzz- und Bigmuff-Gitarren alles verhackstückte und den 80s schon einmal präventiv das Licht ausblies: Garage, Blue Cheer, MC5 und Punk der schnippischsten Art purzelten durch den Song, der keinen Widerstand zuließ. „Mudhoney waren immer meine Lieblingsband“, erzählt Charles Peterson. „Sie entsprachen meiner Vorstellung von Punkrock, hatten aber auch die Heavyness des Hardrock der Sechziger. Mudhoney wussten, dass ihre Rockposen zwar genuin, aber dennoch ein Witz waren. Und sie ließen das Publikum daran teilhaben und mitlachen. Sie waren absolut unbekümmert und hatten eine ironisch funkelnde Ader. Sie sagten Fuck You und zwinkerten einem dabei zu.“ This is Grunge… and you suck.
Auch in Deutschland hatte man mittlerweile die Ohren gespitzt, der Wall of Sound tönte bis in die Alte Welt. Der erste, der reagierte, war Reinhard Holstein aus dem beschaulichen Beverungen im Weserbergland. Im Zuge des grassierenden Neo-6os-Booms mit Bands wie den Fuzztones und den Miracle Workers hatte er 1984 das Fanzine „Glitterhouse“ gegründet, um seiner Leidenschaft für surrend verzerrte Gitarren mit Nachdruck und Fachwissen zu frönen. Ein Platten-Mailorder und ein eigenes Label kamen schnell dazu. 1987 stieß Holstein in einem amerikanischen Fanzine auf eine Anzeige für eine Single von Green River, „Dry As A Bone“. „Wir waren begeistert von dieser Mischung aus rohem 6os-Punk und der Wucht des Hardrock, die sich nicht so richtig ernst zu nehmen schien“, erklärt Holsteins Kompagnon Rembert Stiewe, der dem Label bis heute treu geblieben ist. „Reinhard wollte ohnehin in die USA reisen undfasste den Entschluss, die Jungs von Sub Pop in Seattle zu besuchen. Die saßen damals noch in einer winzigen Klitsche, kaum größer als eine Wohnküche, ohne Telefon, Computer und Fax. Pavitt und Poneman konnten es gar nicht fassen, dass jemand aus Europa überhaupt von ihnen Kenntnis genommen hatte, und waren begeistert, dass er sich gleich anbot, ihre Veröffentlichungen zu lizenzieren. Das wurde mit Handschlag besiegelt – was rückblickend wohl ein Fehler war. Wir hatten zwar den Namen und unfassbare Topseller wie The Fluid und Blood Circus, aber Soundgarden und Nirvana landeten im Europa-Vertrieb dann bei anderen Lizenznehmern. Da waren andere cleverer und schlössen entsprechende Deals ab. Aber ich will mich nicht beschweren. Es war eine klasse Zeit.“
Wieder waren es Mudhoney, die den Stein ins Rollen brachten. „Die waren gleich noch besser“, konstatiert Stiewe. „Sie waren zugänglich und begegneten allen und allem mit Ironie und weit aufgerissenen Augen. Die waren genauso, wie man sich das vorgestellt hat:großmäulig und augenzwinkernd, weil sie Spaß an der Sache hatten, sich aber nicht übermäßig ernst nahmen.“ Noch im selben Jahr holte Glitterhouse die Band zu ihrem ersten Auftritt auf europäischem Boden zu den „Berlin Independence Days“. Damit war Grunge auch in Europa angekommen. Es war der richtige Sound zur richtigen Zeit: Nachdem die Szene lange genug fragmentiert und kleinteilig gewesen war und jeder sein eigenes Süppchen gekocht hatte, war nun das Ende der Eiszeit da. Bei Acts wie Pussy Galore, der Rollins Band und Sonic Youth versammelten sich vor den Bühnen Leute aus den unterschiedlichsten Gruppierungen. Man kannte sich vom Sehen, war aber bisher nie auf die Idee gekommen, miteinander zu sprechen. Jetzt war es auf einmal okay: Die Szene öffnete sich. Fehlte nur noch der endgültig richtige Sound, die Leute zu vereinen und gemeinsam rocken zu lassen. Grunge war der Katalysator. Die Rechnung von Sub Pop begann aufzugehen, ohne dass sich Zuhause in Seattle irgendetwas geändert hätte. Die zweite Offensive stand kurz bevor.
Zwei Jungs aus der Kleinstadt
Nirvana wird im Mittelpunkt dieser Offensive stehen und noch einmal zwei Jahre später die Rockmusik auf immer verändern. In dem zwei Meter großen Krist Novoselic am Bass hat Kurt Cobain nach seinen ersten Versuchen mit dem FECAL MATTER-Tape einen verlässlichen Mitmusiker und Freund gefunden. Drummer wechseln indes so schnell wie Bandnamen. Die Band heißt – unter anderem – Ted Ed Fred, Windowpane, Pen Chap Chew und Skid Row, sie spielen mit Aaron Burckhard am Schlagzeug im Frühjahr 1987 ihre erste Show bei einer Party in dem Kaff Raymond, werden dort beinahe vermöbelt, weil sie sich weigern, Coverversionen zu spielen. Im Januar 1988 betreten Kurt und Krist Jack Endinos „Reciprocal Recordings“-Studio und nehmen für 152,44 Dollar ein Zehn-Song-Demo auf.
„Ich war selber außerhalb von Seattle aufgewachsen, deshalb hatte ich sofort einen Draht zu ihnen „, meint Endino. „Mir war klar, dass es zwei Jungs aus der Kleinstadt waren, die einfach nur ihre Songs aufnehmen wollen. Sie waren nicht interessiert an der Szene, kannten niemanden in der Stadt. Aber sie hatten Dale Crover von den Melvins im Schlepptau, der für sie Schlagzeug spielte. Das war Empfehlung genug: Wenn Dale sie gut genug fand, um bei ihnen zu spielen, dann mussten sie was draufhaben. Die Musik war interessant, gut gespielt. Sie war so gut, dass ich das Tape mit ihrer Erlaubnis an Jon Poneman weitergab. Als er michfragte, wie die Band aussah, sagte ich, dass mich der Sänger an einen Automechaniker erinnerte.“ Womöglich ein Grund mehr, Nirvana, wie die Band nunmehr heißt – Kurt findet’s „unheimlich,geheimnisvoll, schicksalhaft“-, für Sub Pop zu gewinnen: Das Klischee von einfachen Landeiern aus der Arbeiterklasse, die den Fatzkes aus der Großstadt auf den Kopf pinkeln, lässt sich wunderbar für die Marketingkampagne ausschlachten.
Im November 1988 erscheint die erste Single von Nirvana, „Love Buzz“, ein verblüffend effektives Cover eines Songs der holländischen Psychpopper The Shocking Blue (of „Venus“ fame). Die Veröffentlichung bleibt weitgehend unbemerkt, die auf 1.000 Stück limitierte 7″ kommt gar nicht erst in den Verkauf. „Love Buzz“ ist die erste Veröffentlichung des „Sub Pop Singles Club“, dessen monatlich erscheinende Singles nur an Abonnenten verschickt werden.
Der Rest der Welt muss bis Dezember warten, bis er Nirvana erstmals hören wird. „Spank Thru“ ist der Titel des verhaltenen und doch so coolen Songs, den Cobain, Novoselic und ihr neuer fester Drummer Chad Channing für den bis dahin größten Geniestreich von Sub Pop beisteuern: eine auf drei LPs ausgewalzte Seattle-Szene-Werkschau namens subpop200 mit einem Beiheft mit Fotos von Charles Peterson, musikalischen Beiträgen von allen Nennenswerten von Green River über Mudhoney hin zu den wüsten Holzhackern TAD und einer eigens für diese Compilation von Soundgarden eingespielten Hymne, „Sub Pop Rock City“. Es ist auch ihr Abschiedsgeschenk. Mit dem Umweg über SST verabschiedet sich die Band als erste Band der Szene zu einem Major, A&M. Louder Than Love heißt ihre erste Platte dort, ist aber trotzdem nicht so laut wie der Lärm, den Nirvana veranstalten.
Zu Gast beim Pete Best von Seattle subpop200 war die Platte, die für uns alles klar machte. Konnte ein Label, eine Stadt cooler sein? Ich sang damals selbst in einer Band, Nonoyesno, die sich im Sog des Post-Hardcore den drei großen „Blacks“ der Rockmusik verschrieben hatte – Black Sabbath, Black Flag und Big Black – und schrieb für das Hardcore-Fanzine „Trust“, das seit Juni 1986 in Eigenregie alle zwei Monate erschien und sich als Nachrichtenorgan einer denkbar heterogenen Szene verstand. Nun war da auf einmal dieses unerhörte Ding namens Grunge, das alles vereinte, was das Herz höher schlagen ließ. Es hatte die unbändige Energie von Hardcore, verneigte sich vor Größen der Jugend aus den 7oern wie Led Zeppelin, Sabbath und Kiss und suhlte sich in allem, bei dem je laute Gitarren eine Rolle gespielt hatten. Im März 1989 landete ich in San Francisco (gleich am ersten Abend spielten Dinosaur Jr.), musikalisch und auch modisch die inoffizielle Partnerstadt von Seattle. Hierhin waren die Melvins aus dem Nordwesten übergesiedelt, ausderNähe stammten die obskuren Tales Of Terror, die bei ihren Auftritten in Seattle einen so großen Eindruck hinterließen, dass Green River einen ihrer Songs („Ozzy“) coverten und Kurt Cobain sie in seinen Tagebüchern als eine Lieblingsband listete. In San Francisco war das Grunge-Fieber längst ausgebrochen. Die besser sortierten Plattenläden führten alle Releases von Sub Pop und stellten sie populär im Schaufenster aus, binnen weniger Tage konnte man die Melvins und die Sub-Pop-Acts Swallowund Blood Circus live in irgendwelchen runtergekommenen Schuppen sehen, die den Namen Grunge „Dreck“ – wörtlicher nahmen, als einem lieb sein konnte. Die eigentliche Aufgabe aber war es, selbst nach Seattle zu kommen.
Was uns zurück an den Anfang unserer Geschichte führt, zu einem nach mehrtägigem Aufenthalt an einem der ödesten Flecken der Erde endlich reparierten Honda (dessen Motor fortan übrigens ohne Macken lief, auch wenn die Lenkung immer noch schlug) und der um Tage verspäteten Ankunft in Seattle, wo wir bei Sub Pop erwartet wurden. Das neue Büro war nicht mehr die von Rembert Stiewe beschriebene Wohnküche, aber immer noch schäbig und klein genug, um den Verdacht zu erhärten, es könnte sich noch ein Weilchen hinziehen bis zur angekündigte Weltdominanz. Das Hauptquartier der aufregendsten Rockmusik der Welt war ein mit Schreibtischen, Platten und Mitarbeitern vollgestopftes Loch, in dessen Mitte Jack Pavitt und Jonathan Poneman thronten, während um sie herum Angestellte und Bandmitglieder Drohnendienste verrichteten.
Ein paar Monate zuvor hatte Sub Pop den britischen Journalisten Everett True von der damaligen Popbibel „Melody Maker“ eingeflogen und ihm sozusagen den Schlüssel der Stadt überreicht. Seine euphorischen Artikel zementierten endgültig den Erfolg von Mudhoney auf der Insel, wo deren erste 12″ superfuzz bigmuff ein Jahr in den Independent-Charts verbrachte. So gut wurden wir nicht behandelt, aber immerhin konnten wir ein Konzert der Mudhoney-Nebenband The Thrown-Ups besuchen, die in Frauenkleidern auftrat, niemals übte und noch übler klang. Wir bekamen Gelegenheit, Jack Endino im „Reciprocal“-Studio zu besuchen und Pavitt und Poneman zu interviewen. Und wir hatten das Glück, Jason Everman bei Sub Pop kennenzulernen und in dessen Küche übernachten zu können.
Seit Anfang 1989 war Everman zweiter Gitarrist von Nirvana. Er hatte die 606,16 Dollar Kosten für die Aufnahmen des Debütalbums bleach beglichen, ohne selbst auf der Platte mitzuspielen (dafür war er auf dem C overf oto zu sehen). Aber er sprach mit leuchtenden Augen von der Band und ihren großen Plänen, in Kürze mit TAD auf US-Tour zu gehen und danach Europa zu besuchen. Mehrfach versuchte er, Kurt am Telefon dazu überreden, sich mit uns für ein Interview zu treffen. Nachdem der endgültig abgewinkt hatte, führten wir es kurz entschlossen mit ihm (siehe Seite 46). Wie hätten wir ahnen sollen, dass Everman nur wenige Wochen später aus der Band gefeuert werden würde und die erwähnte US-Tour nur noch deshalb mit bestreiten durfte, weil er die nötigen Verstärker besaß. Die Wahrheit ist, dass Kurt Cobain ihn nie wirklich ausstehen konnte, weil er Everman für einen tumben Metalhead hielt – und deshalb auch das Interview mit uns verweigerte: Freunde von Jason aus Germany mussten ebenfalls tumbe Metalheads sein. Ich kann nichts Böses über ihn sagen. Wenn es aber eine tragische Figur im Seattle-Boom gab, dann war er es, der Pete Best des Grunge. Nach Nirvana heuerte er als Bassist bei Soundgarden an, wurde nach der „Louder Than Love“-Tour, noch vor den Aufnahmen zu badmotorfinger ebenfalls gefeuert, spielte im Anschluss kurze Zeit Gitarre bei Mindfunk und hängte seine Instrumente 1994 an den Nagel. Informationen über seinen Verbleib sind bestenfalls als nebulös zu bezeichnen. Es gilt aber als gesichert, dass er sich danach bei den Special Forces ausbilden ließ (in einem Blog meldet sich sein Ausbilder zu Wort), um später mit dem 2nd Ranger Battalion nach Afghanistan und in den Irak zu gehen. Schluck.
Paradigmenwechsel, here we cotne Wenn man bleach heute auflegt, ist man verblüfft über die Dringlichkeit und die geradezu erschütternde Offenheit der Platte. Gleich auf das bauchige Intro des gnadenlos nach unten gestimmten Basses auf „Blew“ folgt eines jener torkelnden, sich in sich selbst schraubenden Gitarrenriffs von Cobain, die auf den frühen Songs ein Markenzeichen waren. Dann setzt der Gesang ein, und man weiß, dass diese Band zu Größerem bestimmt ist: Diese wie durch Schmirgelpapier gefetzte Stimme, ihr gepresstes Murmeln in der Strophe und dann der klare und unwiderstehliche Refrain. Cobains Weltschmerz verstand man, auch wenn die Texte und ihre Bedeutung undurchdringlich blieben. Die ersten fünf Songs sind einfach klasse, von dem schnaubenden „School“ hin zum betörenden „About A Girl“, das in einer noch sanfteren Version zum Highlight der MTV-Unplugged-Session werden sollte. Unverkennbar ist der Melvins-Einfluss bei dem stolpernden „Floyd The Barber“.
Auch unter den Fillern auf Seite zwei gibt es starke Momente: „Sifting“ ist Undefinierter Sludge-Rock, aber wenn sich im Refrain Cobains Stimme über den Soundmatsch erhebt, spürt man seine Einzigartigkeit, eine Fragilität, die in dem Lärm völlig fehl am Platze scheint, aber gerade in dem Kontext noch an Bedeutung gewinnt:
Hier ist ein Junge, der nichts zu verbergen hat, der sein Innerstes nach Außen kehrt. Auf die Frage, was den Erfolg von Nirvana ausgemacht habe, meint Jack Endino: „Kurts Stimme und sein Ohr für Melodien. Seine Riffs sind nicht übermäßig inspiriert, aber sein Gespür für Melodien ist einmalig. Sie könnten von den Beatles stammen, aber durch seine Stimme erhalten sie noch einmal eine ganz eigene, unverwechselbare Qualität.“ Charles Peterson hat einen anderen Ansatz: „Kurt strahlte etwas Zerbrechliches aus, dass man ihn sofort in Schutz nehmen wollte. Er war wie ein verwundeter Vogel. Gleichzeitig war er ein großartiger Musiker, der auf der Bühne völlig ausrastete. Es ist nicht einfach, diese beiden gegensätzlichen Seiten seiner Persönlichkeit zusammen zu bekommen. Es lässt ihn sehr geheimnisvoll erscheinen. Das ist es, was ihn zu so einem großen Star werden ließ.“ Und Nirvana zu einer Anomalie im von cleverem Packagingund großmäuligen Sprüchen angetriebenen Rockzirkus von Sub Pop. Es ist fast, als habe er sich eingeschlichen, als habe er Sub Pop als trojanisches Pferd ausgenutzt, um deren Maschine dahingehend zu steuern, ganz er selbst sein zu dürfen.
Als Nirvana im Herbst 1989 mit TAD auf Europatournee gehen, sind sie bereits (kleine) Stars. Die Tour ist ausverkauft. Ich sehe sie, wieder zurückgekehrt aus den USA, am 17. November im mit etwa 300 Besuchern hoffnungslos überfüllten „Circus Gammelsdorf“ vor den Toren Münchens bei einem chaotischen Auftritt. Zwischen den Songs müssen minutenlang die Gitarren neu gestimmt werden, dann fliegt der Saal jedes Mal wieder aufs Neue auseinander. Danach nimmt Kurt sich Zeit für ein Interview. Er ist freundlich, aber im Gespräch
schmalüppig, einsilbig, verschlossen. Was er zu sagen hat, lässt er in seine Songs fließen. Als er bei Smalltalk langsam aufzutauen beginnt, wird er ans Telefon gerufen. Ein Anruf aus Seattle. Das Interview ist zu Ende. Im Jahr darauf wird es nur eine neue Single geben, „Sliver“, aufgenommen mit Dan Peters von Mudhoney am Schlagzeug. Ohne an der monolithischen Größe von „Smells Like Teen Spirit“ herumknabbern zu wollen: „Sliver“ ist vielleicht der perfekte Nirvana-Song. Er hat die Verspieltheit und Naivität, die Kurt an Bands wie den Vaselines schätzte, die Eingängigkeit klassischer Beatles-Songs und den entfesselten Nachdruck von US-Punk. Auch die Balance zwischen den leisen Strophen und dem explodierenden Refrain konnten Nirvana später nur noch verfeinern, aber nicht mehr toppen.
„Sliver“ ist Nirvanas letzte Single für Sub Pop. Mit Dave Grohl von der Hardcore-Band Scream als neuem Schlagzeuger wagen auch Nirvana den Sprung zu einem Major, Geffen Records. Der Deal wird von Sonic Youth eingefädelt, die selbst kurz zuvor für goo (1990) zudem MC A-Sublabel gewechselt waren. Weil Kurt Cobain sich angesichts der lärmenden Songs auf bleach missverstanden fühlt, verspricht er ein Popalbum. Er wird sein Wort halten. Er wird die Rockmusik verändern, erst Mudhoney vom Grunge-Thron und dann – weitaus einschneidender – Michael Jackson vom Pop-Thron stoßen (im Januar 1992 verdrängt ne vermind Jacksons dangehous von Platz 1 der Bülboard-Charts; ein Paradigmenwechsel ist vollbracht). Er wird aufgrund einer cleveren Businesskonstruktion sein einstiges, in die roten Zahlen geratenes Label Sub Pop vor dem Ruin retten, er wird Millionen von Platten verkaufen, zum „Sprachrohr einer Generation“ werden, mit der ganzen Scheiße aufräumen, Menschen mit seiner Musik berühren und glücklich machen. Es wird ihm kein Glück bringen, er wird daran zerbrechen. Ich habe das erste Konzert verpasst, das ich mit ihm hätte sehen können, am 9. Juni 1989 im „Moore Theatre“ in Seattle. Ich verpasse auch das letzte Konzert am 1. März 1994 im „Terminal 1“ in München. Ich habe Karten für den zweiten Auftritt, die Zusatzshow. Eine Show, die Kurt Cobain niemals mehr spielen wird. >» www.nirvana.de; www.subpop.com
Hätte Grunge überall passieren können?
Jonathan Poneman: Unbedingt. Regionale Szenen gibt es immer, überall. Ja, Grunge hätte überall passieren können. Für Seattle sprach eine Reihe glücklicher Umstände: Charles Peterson war hier, um die Szene zu dokumentieren. Jack Endino war hier, um die Szene aufzunehmen. Und Bruce und ich waren hier, um die Szene auszubeuten.
Bruce Pavitt: Die Isoliertheit Seattles hatte maßgeblichen Anteil daran, eine Kultur zu nähren, die sich nicht um Trends scherte. Die Bands haben füreinander gespielt, weil ohnehin keineraufdie Idee gekommen wäre, dass man damit seinen Unterhalt verdienen könnte. Der Rest der Welt fand das spannend. Seattle war bis dahin ein weißer Fleck auf der Pop-Landkarte. Jimi Hendrix ging hier zur Schule, und das war’s auch schon. Es gibt hier keine Tradition, keinen Chicago-Blues. Man dachte,dass wir hier noch auf Pferden reiten. Poneman: Das war vor Microsoft und Starbucks. Hier gab es Boeing, aber das war nichts Bedeutsames. Es war eine entfernte Ecke der Vereinigten Staaten mit Holzfällern, Fischern und Yetis. Die Musiker in Seattle waren eine isolierte Gruppe. Die Szene konnte sich von Dingen von draußen nähren, aber es war eine kleine Gruppe, die miteinander musizierte, vögelte, musikalische Ideen austauschte. Klar ist Introspektion ein Thema – das Wetter ist manchmal ziemlich trist hier. Aber all das, was uns an Existenzangst nachgesagt wird, ist eine Projektion anderer. Ich habe all die Shows als unbeschwerte Partys in Erinnerung.
In Großbritannien und dem Rest von Europa war Grunge zuerst angesagt.
Poneman: Unser Agent in Großbritannien bot Everett True vom „Melody Maker“ Anfang 1989 an,sich hier vor Ort ein Bild zu machen. Das brachte den Stein ins Rollen. Hendrix hatte es ja auch zuerst in Großbritannien und Europa geschafft. Dort war man immer schon etwas geschmackvoller, was amerikanische Musik angeht.
Pavitt: Amerikanische Alternative-Bands hatten beiden Mainstream-Medien hier keine Chance. Außerhalb des Fanzine-Networks war es enorm schwierig, Aufmerksamkeit zu kriegen. Ab und zu gelang es einer US-Band, in den Independentcharts zu landen. Dann kam SuperFuzzBigMur-Fund hielt sich dort mehr als ein Jahr Haben die Leute Euch alles abgekauft?
Poneman: Tad mit einer Kettensäge im Anschlag? Kettensägen schwingende Holzfäller? Klar, alles ging. Das brachte den Spaß. Deshalb ist man im Geschäft, oder?
Wann war Euch klar, dass Ihr da etwas Außergewöhnliches hattet?
Poneman: Unser Glaube an die Bands war grenzenlos. Wir wussten, dass Soundgarden und Nirvana in einer gerechten Welt Superstars werden mussten. Aber das Rockgeschäft war ein abgekartetes Spiel.
Pavitt: Stell Dir vor, wie wir uns gefühlt haben, als Nirvana auf einmal zehn Millionen Platten verkauften. Wir hatten Recht gehabt! Ein Wahnsinnsgefühl. Poneman: Für uns war aber Mudhoney die entscheidende Band gewesen. pavitt: Sie spielten ihre erste große Show beim „Lamefest“ ein paar Wochen, nachdem wir unser Büro aufgemacht hatten. Nirvana waren im Vorprogramm und wurden stark von ihnen beeinflusst.
Poneman: Mudhoney hatten weniger eine Anti-Karriere-als viel mehr eine „Welche Karriere?“-Attitüde. Kurt dagegen war offenkundig ein ambitionierter Mensch. Pavitt: Als wir Nirvana auf ihrer ersten Europatour in Rom sahen, ging es Kurt nicht gut. Er hatte eine Art Zusammenbruch.
Poneman:Jeden Abend zertrümmerte er seine Gitarre. Monatelang steckten sie bei dieser Tour mit TAD in einem kleinen Bus. Sie mussten sich damals richtig durchschlagen und von der Hand im Mund leben.Sie spielten in Berlin an dem Tag, als die Mauer fiel. Ich hatte Krist am Telefon und er schrie aufgeregt: „Die verdammte Mauer fällt! Die Leute sind da draußen mit Hämmern und reißen sie ein!“
Wie habt Ihr die 20 Jahre unbeschadet überstanden?
Poneman: Irgendwann gab es keine Fehler mehr, die ich noch machen konnte. Ich hatte sie aufgebraucht. Aber die Industrie ist nicht mehr das abgekartete Spiel, das sie einst war. Sub Pop ist nicht der einzige Indie aus der Zeit, der überlebt hat. Merge feiert nächstes Jahr sein 20. Jubiläum. Touch&Go geht sogar schon aufdie3ozu.
Pavitt: Sub Pop und die Indie-Kultur im Allgemeinen versuchen grundsätzlich, die Kreativität der Künstler zu honorieren. Viele der Acts, die sich treu geblieben sind, verkaufen heute um die 500.000 Platten.
Poneman: Ich drängle mich sicher nicht in All-Ages-Clubs. um das nächste große Ding zu entdecken. Diese Zeit ist vorbei. Aber ich höre mir wirklich gerne alles an, was unsere Leute ins Büro bringen. Vielleicht bin ich ja auch ein bisschen doof. Vielleicht gründe ich noch eine richtige Familie, und dann werden sich meine Prioritäten verschieben. Aber gerade jetzt ist die Firma meine Familie. Mein Hobby ist Musik. Ich könnte noch endlos weiterschwärmen, aber sorry, es gibt noch Musik, die ich hören muss.