Oasis
Bei Liam und Noel Gallagher regieren die Bruderhiebe. Dabei haben die beiden so viel gemeinsam: Lust auf Drogen, Gier nach Sex, Haß auf die Konkurrenz namens Blur.
Liam Gallagher schlurft schlaftrunken durch die Lounge eines Londoner Fünf-Sterne-Hotels, bestellt sich einen Tee und raunt der Kellnerin zu: „Want some sugar, sugar!“ Dann wirft er eine Schachtel Kippen durch die Gegend und läßt den angeödeten Star raushängen. Auch wenn der 23jährigen Sänger derzeit zu Englands erfolgreichsten Rockern zählt, das Personal des Nobelhotels kennt ihn nicht. „Noch nicht“, droht Liam. „Am Ende unseres Aufenthalts werden die schon wissen, wer wir sind.“ Kein Zweifel, das werden sie.
Liams miese Laune hat seine Gründe. Am Vortag erst sind Oasis von einer einwöchigen Japan-Tour zurückgekehrt, der zweiten in der erst kurzen Bandkarriere. Die Ereignisse dort waren natürlich viel spannender, als pflichtgemäß Interviews mit der Presse führen. Und der Jetlag tut sein übriges. Vieles hat sich seit dem ersten Besuch im Land der aufgehenden Sonne für Oasis geändert. Die Hallen sind jetzt größer, und die Band hat noch mehr rare Beatles-Platten von den Fans geschenkt bekommen. Aber was für Liam wirklich zählt: Nippons Mädchen, mit denen er die Nächte verbracht hat, waren hübscher und – fast noch entscheidender – die Drogen waren besser und zahleicher als beim letzten Mal. In Japan an illegale Rauschmittel heranzukommen ist für Newcomer aus dem Ausland nämlich viel schwieriger als irgendwo sonst auf der Welt. Ein echtes Problem für Liam, denn weder auf Sex, Drugs, noch Rock’n’Roll kann er verzichten.
Neu ist dieser Lifestyle beileibe nicht. Doch die wilden Jahre eines Rod Stewart oder Elton John sind vorbei, und spätestens seit den Happy Mondays ist keine britische Band mehr so prollig und skandalerprobt wie Oasis. Auch Liam gibt gerne zu, daß die Gruppe beizeiten etwas „aus der Kontrolle gerät“. Vergangenes Jahr schafften es Oasis, aus Schweden ausgewiesen zu werden, weil man in einem Hotel 75.000 DM Schaden angerichtet hatte. Von einer Fähre nach Amsterdam wurden sie „entfernt“, weil sie in besoffenem Zustand ein Handgemenge provoziert hatten. Vier britische Hotelketten erteilten der Band Hausverbot.
Während Liam im Hotelzimmer von seinen Eskapaden berichtet, zappt er 23 TV-Sender durch, begegnet auf MTV kurz einem Popsternchen, mit dem er mal zusammen war. Erst dann widmet er sich seinen beiden Lieblingsthemen: Blur und Bruder Noel. Blur seien „dämliche Votzen, die alberne Songs schreiben“ und „stupide Kunststudentenidioten“, mit denen er keine Lust habe, „gemeinsam fotographiert zu werden.“ Über seinen großen Bruder ist das Urteil schon etwas facettenreicher. Einerseits lobt er dessen großartige Songs, andererseits verabscheut er sein autoritäres Gehabe. Liam über Noel: „Bei den Aufnahmen zum neuen Album mußte ich immer im Pub warten, weil er mich nicht im Studio dabei haben wollte. Wenn die Songs fertig waren, durfte ich
kurz reinkommen, um seine Texte zu singen. Das zeigt ja wohl, was für ein Arsch er ist.“ Noel über Liam: „Er wird immer blöder. Als er zur Schule ging, war er noch halbwegs normal. Aber jetzt ist er definitiv verrückt.“ Als Liam einmal seine Sympathien für Noel ausdrücken wollte, sagte er ihm: „Ich würde Songs von niemandem singen, außer von dir und John Lennon.“ Daraufhin Noel: „Und ich würde niemanden meine Songs singen lassen, außer dich und lohn Lennon.“
Noel schreibt die Musik und sämtliche Texte, die wichtigsten Entscheidungen trifft er alleine. Umso paradoxer, daß die Band ohne ihn gegründet worden ist: Während Noel Gallagher im August 1991 als Roadie mit den Inspiral Carpets durch die USA tourte, gründete Liam mit seinen drei Kumpels Paul Arthurs, Tony McCarroll und Paul McGuigan Oasis. Noel, der sich mit 13 Jahren das Gitarrespielen beigebracht hatte, sah einen frühen Gig der Gruppe, fand sie scheiße, bescheinigte seinem Bruder jedoch Qualitäten als Frontmann. Kurzerhand bot er sich selbst als Songwriter an, unter der Bedingung, die alleinige Kontrolle über alles zu bekommen. Dann stellte er sich vor die Band und sagte: „Wenn ihr nicht dabei seid, um größer als die Beatles zu werden, betrachtet das Ganze nur als ein Hobby.“ Das Ziel war gesetzt, man brauchte nur noch einen Plattenvertrag.
Als Oasis erfuhren, daß Alan McGee, Boß von Creation Records, einen Auftritt der Band Boyfriends in Glasgow besuchen würde, machten sie sich von Manchester nach Schottland auf und drohten dem Veranstalter Prügel an, wenn sie nicht als Vorgruppe auftreten dürften. Oasis spielten – und erhielten den begehrten Vertrag. So will es zumindest die Legende. Im April 1994 veröffentlichte man dann mit ‚Supersonic‘ die erste Single, im August erschien das Debüt-Album. In vier Tagen verkaufte sich ‚Definitely Maybe‘ 100.000 Mal und avancierte zum schnellstverkauften Debüt der britischen Popgeschichte. Heute ist ‚Definitely Maybe‘ immer noch in den englischen Top 20. Eine kleine Niederlage mußten die „Fab Five dennoch einstecken. Als im August die Singles ‚Roll With It‘ von Oasis und ‚Country House‘ von Blur in der gleichen Woche veröffentlicht wurden, stilisierten die englischen Medien das Rennen der Bands um Platz Eins zum Kampf der Giganten hoch. Wettbüros erhielten ungewöhnlich hohen Zulauf, das Thema war Tagesgespräch, doch Oasis mußten sich geschlagen geben. Daraufhin angesprochen, läßt Großmaul Liam erstmal eine Blur-Haßtirade ab, um dann zu versichern, daß ihm das Ergebnis völlig schnuppe sei. Die Vergleiche Blur = Beatles und Oasis = Stones regen ihn allerdings auf. Liam: „Wer sind denn Blur? Für die hat sich vier Jahre lang niemand interessiert, wir hingegen sind schon mit unserem Debüt so groß wie Blur. Wenn schon, dann sind wir die neuen Beatles und Rolling Stones zusammen und Blur sind gar nichts. Ob wir die größte Band der Welt sind? Ich habe keine Ahnung von Dance- oder Popmusik. Fest steht, daß wir die momentan beste Rockband der Welt sind.“
Auch wenn sich Oasis selbst für die Größten halten und die britische Presse patriotische Unsere-Bands-Sind-Die-Besten-Artikel druckt, darf man einen wesentlichen Unterschied zu den glorreichen 6oern nicht übersehen. Während Beatles und Stones damals weltweit absahnten, ist der internationale Erfolg neuer Brit-Bands meist nur Wunschdenken. In Deutschland beispielsweise gastierte ‚Definitely Maybe‘ zwar für einige Wochen in den Charts und die Single ‚Whatever‘ erhielt sogar zaghaftes Radioairplay. Die sechsstelligen Marketingkosten wurden jedoch bei weitem nicht eingespielt. Ob sich Oasis für die Plattenfirma hierzulande jemals rentieren wird, ist ebenso fraglich wie die Zukunft der Band. So führten Streitigkeiten Anfang des Jahres zum Ausstieg des Drummers Tony McCarroll und keine Woche vergeht, in der sich die Brüder Galtagher nicht prügeln oder gegenseitig mit Bandaustritt drohen. „Ich glaube nicht, daß es Oasis in fünf Jahren noch geben wird“, mutmaßt Liam. „Wir werden nächstes Jahr unser drittes Album machen, soviel steht fest. Danach werde ich gar nichts tun, egal, was die anderen wollen.“
Zunächst gibt es jedoch das zweite Album, ‚Morning Glory‘: laute Gitarren, leise Streicher und zahllose Ohrwürmer. Beatles und Stones wurden auch wieder beklaut, die Texte handeln erneut von „Sex und Drogen“. Fast beängstigend ist die Leichtigkeit, mit der Noel Gallagher Hits aus dem Ärmel schüttelt. ‚Some Might Say‘ entstand, während er im Studio auf die Band wartete, die damit beschäftigt war, einen Tisch durch die Windschutzscheibe des Mercedes ihres Managers zu werfen. Und mit ‚Don’t Look Back In Anger‘, da ist sich Liam sicher, hat man eine Nummer Eins auf dem Album. „Da können Blur, East 17, Take That und wie sie alle heißen veröffentlichen, was sie wollen. Der Song ist Weihnachten auf Platz Eins“, prophezeit Liam, schaltet den Fernseher aus und beendet das Gespräch.