Original oder Fälschung?
Stellt Euch vor: Rembrandt hätte vor seinem Tode ein Ölgemälde angefangen. Hier ordentlich grundiert, da die Umrisse gezeichnet, da ganze Figuren vollendet ausgemalt. Jahre nach seinem Tod kommt nun ein unbekannter Maler, in Rembrandts Stil perfekt bewandert, und malt das unvollendete Bild zu Ende. Es wird ein fantastisches Gemälde, künstlerisch überragend und von Rembrandts früheren Werken nicht zu unterscheiden. Ist dieses Bild ein echter Rembrandt? Ist das hohe Kunst oder Leichenfledderei in Tateinheit mit übler Geschäftemacherei ?
Vor ganz ähnlichen Überlegungen stehen dieses Jahr Millionen Rockfans in der ganzen Welt. Jimi Hendrix, der unvergessene Held der Woodstock-Generation, ist jetzt mit „neuen“ Langspielplatten wieder ganz groß im Geschäft. Diese Scheiben sind so echt wie unser fiktiver Rembrandt. Hendrix lieferte Gesang und Gitarre, den Rest (bis auf wenige Ausnahmen) steuerten begabte, aber unbekannte Musiker bei – unter Anleitung des früheren Hendrix-Produzenten Alan Douglas. Die erste LP dieser Art erschien im März in den USA und im August bei uns. Titel: „Crash Landing“. (MUSIK EXPRESS berichtete über diese Platte und ihren Werdegang ausführlich in der August-Nummer!) Der Erfolg ist umwerfend: Schon im Oktober konnte Douglas in den USA eine Goldene für 500.000 verkaufte „Crash Landing'“ in Empfang nehmen!
JIMI SELBST KONNTE NICHT „ECHTER“ SEIN
Jetzt wirft der Produzent einen neuen Hendrix auf den Markt. Titel: „Midnight Lightning“. Um es vorweg zu sagen: Diese LP ist fantastisch. Sie klingt so echt und überzeugend wie die Hendrix-Scheiben aus seinen besten Tagen. Keine Frage: Hendrix hat mit dem Jazz-Produzenten Alan Douglas einen einfühlsamen, fähigen, aufrechten Mann gefunden. Douglas selbst sieht es jedenfalls so. Und er hält sich auch für autorisiert, aus den rund 700 Aufnahmebändern, die er zur Verfügung hat, neue Platten zu schneidern. „Schließlich“, betont Douglas, „ist Jimi im Jahr vor seinem Tode zu mir gekommen und hat mich gebeten, ihm Starthilfe für eine neue Karriere zu geben. Er hatte die Popszene gründlich satt. Er wollte nicht länger Popmusik spielen, und er wollte auch nicht mehr den Popstar markieren. Sein Image sah ungefähr so aus: ‚Jimi Hendrix macht mehr Geld, fährt bessere Autos, vernascht mehr Groupies, schtuckt mehr Drogen als irgendein anderer Popstar. Deshalb, und weil er es auch auf der Gitarre gut bringt, ist er überhaupt der größte Superstar aller Zeiten!
SCHLUSS MIT DEM POPSTAR:JIMI WIRD JAZZER – BEINAHE
„Mir hat Hendrix gebeichtet, daß er all das nicht länger ertragen könnte. Außerdem wolle er nicht mehr mit seinen alten Kumpels zusammen die alten Hits spielen und dabei die Gitarre mit den Zähnen und Zehen traktieren. Er wollte einen neuen Anfang, er wollte nur noch Jazz spielen. Deshalb holte er mich, deshalb veranstaltete er Sessions mit dem Jazz-Organisten Larry Young und mit dem Jazz-Gitarristen John McLaughlin. Doch sein geschäftstüchtiges Management wollte davon nichts wissen. Die wollten Geld sehen.
„Im Jahr vor seinem Tode hatte Hendrix immer häufiger Auseinandersetzungen mit seinem Manager Mike Jeffreys (er verunglückte 1972 tödlich bei einem Flugzeugabsturz). Das „Electric Ladyland-Studio“ in New York, das beiden gehörte, ist der Ort, an dem die 700 Tonbänder, mit denen ich jetzt arbeite, bespielt wurden. Ich habe die meisten produziert. Zum Schluß hatte Hendrix soviel Ärger mit seinem Manager, daß er sein Studio fluchtartig verließ und nach Europa ging. Wäre er dageblieben, hätten wir vielleicht einige Platten fertigstellen können.“
DICHTUNG ODER WAHRHEIT?
Wie aber kam Alan Douglas dazu, erst fünf Jahre nach Hendrix‘ Tod mit Geisterplatten den Markt zu stürmen? Hätte er damit nicht vor fünf Jahren anfangen können? Das ist der springende Punkt in der Geschichte, die Douglas erzählt.
Der Produzent reiste im Oktober und November durch Europa, um genau diese Frage zu beantworten. „Denn hier ereifern sich alle darüber, wie die neuen Hendrix-Platten zustandegekommen sind, und nicht wie sie klingen,“ klagt der Produzent. „In den USA haben sich die Rockfans wenige Gedanken gemacht – sie haben einfach gekauft. In Europa ist das genau umgekehrt.“
Für alte Zweifler erzählt Alan Douglas jetzt eine finstere, kleine Story aus dem amerikanischen Geschäftsleben. Anschließend, so hofft Douglas, sollen die Fans mit offenen Börsen zum nächsten Laden eilen und kaufen, kaufen, kaufen …
ALAN DOUGLAS ERZÄHLT EINE GESCHICHTE
Als Jimi Hendrix am 18. September 1970 in seinem Londoner Hotel ums Leben kam, hatte sein Manager einen gültigen Vertrag über vier Langspielplatten im Tresor. Jeffreys, dem Skrupellosigkeit und zwielichtige Geschäftsmethoden nachgesagt werden, hatte gleich die richtige Idee: Er wollte aus dem musikalischen Nachlaß des ausgeflippten Gitarristen vier LPs bauen. Im Electric Ladyland Studio fand er wahrscheinlich um die 1000Sessionbänder. Die Aufnahmen waren in halbrohem Zustand und wurden, liederlich bearbeitet, auf den Markt geworfen. Dazu Douglas: „Vom künstlerischen Standpunkt aus waren „The Cry Of Love“, „Hendrix In The West“, „Rainbow Bridge“ und „War Heroes“ keineswegs ausgereift. Die Platten waren nicht mal richtig abgemischt, ganz zu schweigen von der Zusammenstellung: Es ist zuviel Ausschuß drin, zu viele schwache Kompositionen.“
Die Quittung bekam der clevere Jeffreys umgehend. Nur „The Cry Of Love“, direkt nach Hendrix‘ Tod erschienen, fand noch einigen Zuspruch. Die Millionenschar der Hendrix-Fans konnte sehr wohl zwischen ausgereiften Produktionen und lieblos zusammengehauenen Scheiben unterscheiden. Auf den folgenden drei LP’s blieb Jeffreys förmlich sitzen. Alan Douglas: „Mike Jeffreys gelang es, Hendrix‘ Image als Könner innerhalb von zwei Jahren völlig zu ruinieren. Die Nachfrage selbst nach den einstigen Millionen-Seilern – wie „Electric Ladyland“ – erreichte den Nullpunkt.
100 MILLIONEN UND TROTZDEM PLEITE?
Obwohl der einstige Superstar in den vier Jahren seiner kurzen Traumkarriere über 100 Millionen (!) Mark verdient haben soll, stand sein Vater und Erbe 1972 vor der Pleite. James Allen Hendrix, ein einfacher schwarzer Ex-Gärtner, begriff überhaupt nichts mehr. Bis 1966 hatte er damit gerechnet, sein Leben als armer Mann zu beschließen. Dann plötzlich schwamm sein Sohn in den Millionen und auch auf Vater, Bruder und zwei Stiefschwestern regnete es Dollars. (Jimis Mutter, eine Cherokee-Indianerin, starb, als der Junge zehn Jahre alt war – die große Tragödie seines Lebens.) Und sechs Jahre später sollte der ganze Spuk wieder vorbei sein? Al Hendrix überlegte, daß er jetzt wohl wieder arbeiten gehen müsse. Als schlechtbezahlter Gärtner in seiner Heimatstadt Seattle (US-Bundesstaat Washington) – wie früher.
DER GÄRTNER VERKLAGT DAS MANAGEMENT
Es wurde noch verzwickter, als Mike Jeffreys 1972 bei einem Flugzeugabsturz ums Leben kam. Auch er hatte Erben und Geschäftspartner, die jetzt den verblichenen Popstar für sich in Anspruch nahmen. Al Hendrix hatte eben den Traum von der Super-Luxus-Villa aufgegeben, da nahte die Rettung in Gestalt eines Nachlaß-Spezialisten aus New York. Der Anwalt empfahl, zunächst das immer noch amtierende Hendrix-Management zu verklagen. Sie sollten den gesamten musikalischen Nachlaß an den eigentlichen Erben übergeben. Das Management sollte auch nicht mehr über spätere Operationen entscheiden oder an ihnen Kasse machen. Der Anwalt ließ alle unveröffentlichten Tonbänder überraschend beschlagnahmen und bis zum Ende des Prozesses an sicherer Stelle verwahren. Zwei Jahre dauerte das zähe Ringen um den Hendrix-Markt. 1974 gewann Al den Kampf nach Punkten: Endlich konnte die „Operation Hendrix“ beginnen . . .
OPERATION HENDRIX -WEIL AL GELD BRAUCHT
Phase I: Al Hendrix engagiert einen fähigen Produzenten. Alan Douglas kann unbeschwert schalten und walten – nur Geld soll es bringen. Der Jazz-Produzent ist sehr kritisch: Nur Hendrix‘ Gesang und Saitenspiel ist ihm gut genug. Seine Spielpartner werden gelöscht (bis auf wenige Aufnahmen). Phase II: Während Douglas „Crash Landing“ garkocht, rollt in den USA eine schnittige Werbekampagne an. Das ist wichtig: Denn vier Jahre lang war um Hendrix totale Funkstille – er wurde nicht mal mehr im Radio gespielt, geschweige denn sonstwo hervorgehoben. Das muß anders werden, und dafür kann Douglas gar nicht genug Geld ausgeben. In sieben Monaten wird das durchkicherte Image des einstigen Popidols geflickt, überbügelt und mit neuen Schlaglichtern erhellt. Ein Wunder der Werbung: Hendrix ist wieder wer, jedenfalls in den USA.
500 000 AMIS KÖNNEN NICHT IRREN
Phase III: Im März 75 sind die Fans bereit zum Shopping. „Crash Landing“ wird auf den Markt geworfen. 500.000 Amis können nicht irren, die Scheibe muß also gut sein. AI Hendrix kauft sich die Super-Luxus-Villa, dazu eine passende Limousine. Die Tochter bekommt ihre Aussteuer, der Sohn seine Ausbildung. Sehr vernünftig, denn ewig wird der neue Dollar-Regen nicht rauschen: Alan Douglas will nach „Midnight Lightning“ nur noch zwei LPs auf den Markt werfen.
Douglas: „Eine Hendrix-Schwemme? Ich kann mich beherrschen. Zunächst werde ich dafür sorgen, daß die vier LPs verschwinden, die Mike Jeffreys herausgebracht hat. Dann werde ich die besten Stücke dieser vier LPs neu bearbeiten und auf einer einzigen zusammenfassen.“ Und die letzte Hendrix-LP aller Zeiten? „Die ist schon fast fertig, so wie Jimi sie selbst im Electric Ladyland-Studio eingespielt hat. Wie gesagt, er wollte Jazzer werden. Auf dieser Platte werdet ihr den Popgitarristen kaum wiedererkennen. Hendrix improvisiert mit Larry Young (Orgel), Bill Cox (Baß), Mitch Mitchell (Drums) herrlich entschwebt über weite Strecken. Dann wieder mit John McLaughlin (Gitarre), Dave Holland (Baß) und Buddy Miles (Schlagzeug). Welch ein wunderbares Jazz-Album!“