Festival-Reportage

Mit den Parcels auf Festivaltour: „Mittelmaß ist das Schlimmste, was dir passieren kann“


Kaum eine Band tritt diesen Sommer auf so vielen wichtigen und prestigeträchtigen Festivals auf wie die Australier von Parcels. Wir haben die Wahl-Berliner einen Tag lang beim Hamburger MS Dockville begleitet und intime Einblicke in den Touralltag erhalten.

Seit fast fünf Jahren leben die fünf Parcels nun bereits in Berlin, über WGs und Einzimmerwohnungen in Kreuzberg und Neukölln verteilt – wenn sie denn überhaupt mal länger als eine Nacht in Berlin sind. Rund 100 Liveshows wird das Quintett am Ende der Festivalsaison 2019 gespielt haben, mehrere Zehntausend Menschen mit ihrem Trademark-Sound aus Disco-, Funk- und AOR-Rock-Einflüssen zum Tanzen gebracht haben. Berlin, so sagen die Parcels jedoch unisono, fühle sich längst wie Zuhause an. Nur Noah spricht offen eine Schwäche an, die dazu führt, dass er sich „wie ein Tourist“ in Berlin fühle, sobald er seine gewohnten Ecken verlasse: die deutsche Sprache.

„Eine Weile lang wollte ich wirklich Deutsch lernen“, sagt er, „aber es ist wirklich hart und du verzweifelst daran und dann gibst du auf, weil du es in Berlin doch kaum benötigst, wenn du nicht willst.“ „Pat“, schiebt Noah nach, „er hat es drauf. Sein Deutsch ist wirklich gut.“

Apropos Pat – wo steckt der eigentlich? Seitdem er sich zu einer Joggingrunde verabschiedet hat, wurde er nicht mehr gesehen. Stellt sich heraus: Pat hat sich mit seinem Lieblingspodcast auf den Ohren ins Produktionsbüro verzogen und versucht zu schlafen. Als er uns im Raum bemerkt, reibt er sich die Augen und erinnert sich, dass er uns ja noch etwas zeigen wollte – das Symbol dafür, dass sie es als Band geschafft haben, wie er sagt: den Nightliner.

Auf dem Weg zum Parkplatz schwelgt Pat in Erinnerung. „Es ist so lustig, wieder hier zu sein“, sagt er. Das Dockville war eines der allerersten Festivals, das der Band eine Chance gab. „Wir campten zu sechst in einem Zelt und frierten uns nachts den Arsch ab. Wir spielten direkt am ersten Tag und wussten nicht, dass wir die darauffolgenden zwei Tage kein Catering bekommen würden. Also schlichen wir uns ins Backstage und klauten immer wieder Essen“, erzählt er und kichert in seine Hand.

„Es geht mir wirklich nicht ums Geld – so cheesy es klingt“ – Patrick Hetherington (Parcels)

Im Nightliner angekommen, gibt Pat den Immobilienmakler: Hier die 15 Betten, hier die Lounge, hier die Spielekonsole („Wir haben sie noch nie benutzt, sogar Musik hören wir nur sehr selten auf Tour.“) und hier das Highlight aus seiner Sicht: die En-Suite-Toilette. „Wenn du jahrelang wie eine Ölsardine in einem Van unterwegs bist, sind es die kleinen Sachen, die du kaum genug wertschätzen kannst.“

Pat sieht sich noch einmal um, als müsse er sich noch einmal selbst bestätigen, dass es die Parcels bereits so weit geschafft hätten. Er dreht sich eine Zigarette und sagt: „Es geht wirklich nicht ums Geld, so cheesy das auch klingen mag. Mir geht es nur darum, uneingeschränkt kreativ sein zu können. Und dafür brauchen wir natürlich Geld. Ich muss aber nicht direkt ein großes Haus kaufen. Mir reicht meine kleine Wohnung, ich kann auch jeden Tag nur Kartoffeln essen – Hauptsache ich kann jeden Tag ins Studio gehen.“ So ein Nightliner, der wäre aber schon eine feine Sache, muss er zugeben.

Hektik statt Ruhe vor dem Sturm

Zurück in den Backstageräumlichkeiten finden wir Jules beim Lesen des Reisetagebuchs eines Naturkundlers, der sich auf die Spuren Nietzsches Zarathustra gemacht hat. Klingt nicht nach der entspanntesten Lektüre, keine zwei Stunden vor dem Linecheck.

„Ich stehe momental total auf Nietzsche“, sagt Jules, „auch wenn er sicher nicht der beste Autor für die Zeit einer Tour ist. Ich habe das seltsame Talent, mir immer die depressivsten Bücher für eine Reise einzupacken.“ Im Hintergrund versuchen die anderen Parcels krampfhaft ihr Lachen zu unterdrücken. Jules‘ Obsession mit Nietzsche sei längst zu einem Running Gag unter ihnen geworden, erklären sie ihr Verhalten.

Sonderlich viel Zeit bleibt Jules dann doch nicht, um in seinem Buch zu schmökern – das Warmspielen ruft. Drummer Anatole und er greifen sich jeweils eine Gitarre und beginnen sich neue Akkordfolgen vorzuspielen. Werden wir hier etwa Zeugen des Entstehens eines neuen Parcels-Superhits? Jules lächelt und sagt: „Wir haben das zweite Album eigentlich schon durchdacht und es wird ganz sicher nicht so klingen wie unser Debüt.“

„Mittelmaß ist das Schlimmste, was dir passieren kann.“ – Noah Hill (Parcels)

Eine Abkehr von der Disco-Funk-Erfolgsformel? Laufen sie damit nicht Gefahr, ihr vier Jahre lang mühsam aufgebautes Standing als eine der groovigsten und eingespieltesten Livebands im Livemusik-Zirkus zu verlieren? Jules zuckt mit den Schultern. Für ihn seien ihre Stimmen und ihr ineinandergreifender Harmoniegesang das viel größere und wichtigere Alleinstellungsmerkmal der Parcels – und das werden für Album Nummer Zwei nur noch weiter perfektionieren.

Es war auch ganz sicher diese Hauptzutat, die dazu führte, dass das selbstbetitelte Debütalbum der Parcels so herausragende Rezensionen in der Musikpresse erhielt. Yours truly Musikexpress vergab 5/6 Sternen, der britische NME vergab 5/5 und nannte das Album „timeless“. „Nett“ fänden sie solche Besprechungen, sagt die Band, ihr Selbstbewusstsein würden sie über solches Lob jedoch nicht definieren. Viel schlimmer wäre eine mittelmäßige Bewertung, entgegnet Jules. „Ohja, 3,5 wäre grauenhaft. Mittelmaß ist das Schlimmste, was dir passieren kann. Niemand will Durchschnitt sein“, stimmt ihm Bassist Noah zu. Auch um der Durchschnittlichkeit vorzugreifen, seien sie so bedacht darauf, die letzte Stunde vor jedem Gig noch einmal intensiv miteinander zu verbringen.

Als diese letzten 60 Minuten anbrechen, wirkt es, als habe jemand einen unsichtbaren Schalter umgelegt. Plötzlich wirkt Hektik in dem kleinem Backstageraum, wo vorher noch relaxen an der Tagesordnung war. Die Parcels-Männer geben sich nun sichtlich aufgekratzt, hüpfen durch den Raum, versuchen ihre (womögliche) Nervosität mit Witzen und Blödeleien zu überdecken. Je weniger Zeit bis zum großen Moment des Tages verbleibt, desto mehr kapseln sich die Fünf von uns und dem Rest des Geschehens ab. Sie wollen nun für sich sein, ihre Rituale in Ruhe abspulen. Man sehe sich dann an der Bühne, gibt uns Jules noch mit.

Auf der Bühne sind die Parcels hellwach und voller Motivation

Als der schwarze Van, der die Band zur Bühne fährt, ankommt, geht alles schneller als gedacht. Letzte Instruktionen von der Tourmanagerin, ein letzter Schnappschuss für den Festivalveranstalter, eine letzte Pose für den Bandfotografen, das Licht auf der Bühne geht aus, das Publikum kreischt, die Band geht die Treppen herauf.

Was ihnen entgegenschlägt, ist pure Energie. Obwohl nebenan noch zeitgleich Super-Hype-Newcomerin Billie Eilish spielt, herrscht reges Gedrängel vor der Parcels-Bühne. Schon der erste Tastenanschlag von Louie wird lauthals gefeiert, als Anatoles Drumkit einsetzt, gibt es kein Halten mehr. Die Massen hüpfen, tanzen, wackeln mit den Köpfen. Die Band saugt die Atmosphäre ein, ist spätestens jetzt hellwach und voller Motivation. Kurze Ansage während des Intros, dann frontal in den ersten Hit des Abends, „Myenemy“.

Band und Publikum berauschen sich gegenseitig aneinander, liefern sich Lautstärkeduelle bei den großen Songs „Lightenup“ und „Tieduprightnow“. Jules und Pat, die beiden Männer in der Mitte, kriegen das Grinsen gar nicht mehr aus den Gesichtern – etwas, das sie mit den Fans in der ersten Reihe teilen. Nach dieser intensiven, tanzwütigen Stunde lässt sich behaupten, woran am frühen Vormittag noch gezweifelt wurde: Ja, Parcels‘ Auftritt beim MS Dockville 2019 war eine triumphale Rückkehr zu den Anfängen.

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Max Hartmann
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