Kommentar

Wie wir leben wollen


Die Anschläge vom 13. November in Paris haben dem Terror in Europa eine neue Qualität gegeben: Jeder ist betroffen, und keiner kann sich mehr herausreden.

Der Schock saß tief kurz nach den Terroranschlägen am 11. September 2001 in New York. Nichts würde mehr so sein wie vorher, schrieben damals die Kommentatoren. Und nach wenigen Monaten war fast alles wieder so wie früher – nichts, was sich langfristig negativ auf die Lebensrealität der Menschen, die nicht vom Anschlag auf das World Trade Center betroffen waren, ausgewirkt hätte – bis auf intensivere, zeitaufwendigere Kontrollen an den Flughäfen. Ansonsten konnte man in der westlichen Welt schnell wieder zur Tagesordnung und in die Spaßgesellschaft zurückkehren.

Boom Tschak: Die Elektro-Kolumne von Albert Koch
Albert Koch ist Chefredakteur des Musikexpress. Hier kommentiert er die Folgen der Paris-Anschläge für uns alle.

Es ist ja eine durchaus menschliche Reaktion, vielleicht auch eine Art Selbstschutz, dass Menschen Dinge, die sie nicht unmittelbar betreffen, nicht zur Kenntnis zu nehmen oder falls doch, schnell wieder vergessen. Die jüngsten Anschlagsziele der Terrororganisation „Islamischer Staat“ (IS) wie der Libanon, die Türkei, Somalia, Kuweit und Syrien sind weit weg. Selbst der Anschlag auf das Satiremagazin „Charlie Hebdo“ im Januar in Paris war ja noch viel zu weit entfernt von „unserer“ Lebensrealität. Was geht’s mich an? Ich arbeite ja nicht in der Redaktion einer Satirezeitschrift. Und überhaupt, waren die nicht selbst schuld, haben die das nicht irgendwie provoziert durch die Veröffentlichung ihrer Mohammed-Karikaturen?

Der Terror kommt zu „uns“

Nach dem 13. November 2015 und den Terroranschlägen von Paris dürfte aber selbst den unpolitischsten Zeitgenossen klar geworden sein, dass das Unpolitischsein keine Option mehr ist. Der Terror in Europa hat eine neue Qualität erreicht, die jeden betrifft. Die Ziele sind Konzertgänger, Besucher von Fußballspielen, Cafés und Bars, Passanten – es gibt niemanden, der nicht in eine dieser Kategorien fallen würde. Der Terror gegen Unschuldige, der im Nahen Osten alltäglich ist, kommt zu „uns“. Am Samstagnachmittag in einem Café zu sitzen bei einer Tasse koffeinfreiem Latte Macchiato mit Sojamilch, um im nächsten Moment von einer Bombe zerfetzt zu werden, wird von einer abstrakten Vorstellung zu einer realen Bedrohung.

Es geht um die „Entwestlichung der Welt“, wie Gregor Gysi, der ehemalige Fraktionsvorsitzende der Linken im Bundestag, in einem Facebook-Post feststellte. Vielleicht sollte in diesem Zusammenhang daran erinnert werden, dass der hedonistische Lebensstil des Westens und die potenziell unpolitische Einstellung der Menschen, die Wahlmöglichkeit zwischen politisch und unpolitisch, selbst die Kritik am westlichen System durch das westliche Verständnis von Demokratie und Meinungsfreiheit überhaupt erst ermöglicht werden. Oder anders: In Syrien geht zurzeit keiner am Samstagabend in einen Club wie das Berghain.

[facebooklikebox titletext=’Folgt Musikexpress auf Facebook!‘]

Jetzt hat der Terror die Grenze der Popkultur überschritten, der Besuch eines Konzerts wie das der Eagles Of Death Metal in Paris wird zu einem politischen Akt. Im Bekennerschreiben begründete der „Islamische Staat“ die Morde im Bataclan damit, dass dort „Götzendiener eine perverse Party“ gefeiert hätten. Rockmusik gilt bei allen religiösen Fundamentalisten – übrigens auch bei den christlichen – als Teufelszeug. Die Reaktion in den sozialen Netzwerken auf die Anschläge in Paris waren Trauer und Wut und – man hätte nicht dagegen wetten wollen – erste Stimmen, die den Terror in Paris als Legitimation für ihre verdrehte Weltsicht vereinnahmten und in einer fahrlässigen Verkennung der Kausalität die Flüchtlingsströme für die Pariser Attentate verantwortlich machten. Prominentester Fall, der Autor Matthias Matussek, der in einem Facebook-Post schrieb: „Ich schätze mal, der Terror in Paris wird auch unsere Debatten über offene Grenzen und eine Viertelmillion unregistrierter junger islamischer Männer im Lande in eine ganz neue frische Richtung bringen.“ Matussek, der vorher schon verhaltensauffällig geworden war, weil er die Homosexualität als „Fehler der Natur“ bezeichnete, beendete seinen Post mit einem grinsenden Smiley. Jan Böhmermann stellte am nächsten Tag in seinem Facebook-Post „100 FRAGEN NACH PARIS Keine Antworten“ die Frage: „Ist nach gestern endlich legal, Matthias Matussek ein dummes Arschloch zu nennen?“ Nachdem Jan-Eric Peters, Chefredakteur der „Welt“, in deren Diensten Matussek steht, Konsequenzen für den „durchgeknallten“ Post androhte, ruderte dieser zurück. Das, was bei vielen als Verhöhnung der Opfer von Paris angekommen war, wäre doch nur „Ausdruck sarkastischer Verzweiflung“ gewesen. Doch da war das Kind schon längst in den Brunnen gefallen.

Rockmusik gilt bei allen religiösen Fundamentalisten als Teufelszeug

Andere wiederum versuchten sich in der Aufrechnung der Opferzahlen der Terroranschläge in Paris mit denen im Nahen Osten. So schrieb etwa die Schauspielerin Angelina Jolie auf Facebook: „Während jeder über Paris redet, erwähnt niemand den gestrigen ISIS-Angriff im Libanon“, aber nicht ohne zur Sicherheit „Ich bete für beide Länder“ anzufügen. Als ob mit der Aufrechnung von Opferzahlen oder Gebeten irgendjemandem geholfen wäre.

Dass die Gründung des „IS“ eine zumindest indirekte Folge der imperialistischen Kriegspolitik der USA ist, sollte nicht vergessen werden. Der ehemalige US-Präsident George W. Bush und sein Verteidigungsminister Donald Rumsfeld gehören mit der völkerrechtswidrigen Invasion im Irak 2003 zu den geistigen Vätern der Terrororganisation. Jetzt heißt es, zunächst die Symptome bekämpfen und dann aber endlich die Ursachen beseitigen: die ökonomische Ungleichheit zwischen Nord und Süd und West und Ost, Armut und soziale Ungerechtigkeit. Erst dann können wir wieder zur Tagesordnung übergehen und uns bei einer Tasse koffeinfreiem Latte Macchiato mit Sojamilch im Café darüber aufregen, wie furchtbar es doch ist, in Deutschland zu leben.