Popkolumne, Folge 155

Soll man lieber alleine trinken? – Paulas Popwoche mit Politik, Pop & Pietät


In der neuen Ausgabe ihrer Popkolumne (KW 9/2022) schreibt Paula Irmschler über Popstar Wolodymyr Selenskyj und nachvollziehbare Gründe für Krieg-Memes, Karneval-Feiern und Kneipenbesuche in der Krise.

Ob im Radio oder Fernsehen, in Podcasts oder Zeitungen, in sozialen Netzwerken oder Gruppenchats und oben drauf noch draußen auf der Straße: Alle, die nicht Politiker*innen oder zuständige Wissenschaftler*innen sind, sind sich gerade unsicher, ob sie noch irgendwas sagen können, ob sie dürfen, ob sie sollen oder ob sie überhaupt wollen – zum Krieg oder noch häufiger angezweifelt: nicht zum Krieg.

Krieg im Jahr 2022

Ich verstehe das, solche Fragen sind eh immer berechtigt, überhaupt: manchmal nachdenken, bevor man spricht, why not? Und auch diese Kolumne fängt wie alles momentan an mit den Worten: Meine Gedanken sind bei den Betroffenen dieses Angriffskrieges, der gegen die ukrainische Bevölkerung geführt wird, und auch ich habe überlegt, wie und was man dazu sagen kann und ob überhaupt und am Ende laber ich vielleicht Scheiße, aber ich bin wie ihr alle vergleichsweise eine eher kurze Zeit auf dieser Welt und für uns alle ist viel zu vieles an dieser Situation NEU, wenn auch nicht alles.

Viele von denen, die gerade nicht unmittelbar betroffen sind, beschäftigen sich dieser Tage viel – meiner Meinung nach zu viel – mit Pietät und deswegen habe ich darüber ein bisschen nachgedacht. Darf es noch ein Leben jenseits des Krieges geben? Darf man noch lachen? Darf man feiern? Darf man seine eigenen Probleme haben? Beziehungsweise sind nicht diese Fragen danach auch schon wieder Ablenkung? Sind sie nicht obsolet, weil die Realität sie so eindeutig mit JA beantwortet? Findet Leben neben dem Krieg, mit dem Krieg, über den Krieg hinaus nicht sowieso statt und schließt sich das überhaupt alles aus, passieren Sachen nicht ohnehin immer gleichzeitig, und gab es nicht vor der letzten Woche schon Kriege und Ungerechtigkeiten und habt ihr auch Kopfschmerzen jetzt?

Es passiert alles. Leute trinken Bier. Leute müssen ihre Rechnungen bezahlen. Leute haben Sex. Leute machen Memes.

Die Memeisierung ist in der Pietätsdiskussion derzeit ein großes Thema. Ich las sogar bereits, dies sei der „Krieg der Memes“, aber: na ja, dafür wird das alles doch zu stark kritisch begleitet, so gut wie keine Memes werden unkritisiert stehen gelassen, egal von welcher Seite, was gut ist. Aber Memes kommen derzeit aus allen möglichen Richtungen und aus allen möglichen Motivationen heraus. Es wird nicht nur Position für eine Seite bezogen, sondern das ganze Geschehen drumherum verhohnepiepelt oder angestachelt. Internet 2022 halt, wir haben alle dieses Monster kreiert.

Krieg in der Ukraine: Capital Bra und Kontra K droppen solidarischen Track ,,Stop Wars“

Wir wurden und haben uns einander jetzt mehrere Jahre durchs Internet zur permanenten Profilierung erzogen, wir haben unsere Social-Media-Auftritte und dort sind wir unsere eigene Marke und zeigen was wir wissen, können, was wir sein wollen, wie witzig und cool wir sind. Nicht wir alle natürlich. Es gibt ein paar Leute, die sind noch zu retten. Good for them. Aber dass ein paar von uns Internetheinis jetzt so tun, als hätten wir nicht selbst seit 10, 15 oder mehr Jahren an der Vermemeisierung von ALLEM aktiv mitgearbeitet, ist irgendwie affig, WE DID THAT. Und ich glaube es ist, vorsichtig ausgedrückt, nicht so schlimm.

Ich verstehe, wieso das ist: Dieser Krieg ist im Gegensatz zu den vorherigen wirklich überall, es ist seit einer Woche das zentrale Thema. Wir stehen alle in Alarmbereitschaft, weil er so nah ist und wir sollen den Informationsfluss bloß nicht stören mit unseren Gefühlen, die da zum Beispiel wären: Angst, Trauer, Unsicherheit, Verzweiflung, aber natürlich auch immer noch: Lust am Leben und Entschlossenheit. Was hat das mit Memes zu tun? Humor ist eine Mitteilungsform – und ist es immer schon gewesen. Satiren, Parodien, Karikaturen – sie haben Politik schon immer begleitet. Nur hatte man es bis vor – … sagen wir: 15 Jahren – eher in der Hand, sie zu konsumieren. Da ist man zum Kiosk gelaufen für die neueste schreckliche SZ-Karikatur und bekam nicht unaufgefordert etwas auf den Bildschirm gehauen. Und ja, das kann einen in der falschen Stimmung erwischen, einen verletzen und so weiter. Dann muss man sich die Sachen, denen man im Netz folgt halt mal wieder neu kuratieren, für eine Weile paar Leute stummschalten und sich den Nachrichtenstrom zusammenstellen, der einem passt …

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… na ja, es sei denn die professionellen Accounts memen mit, dann Pech gehabt.

Vielleicht sind sie nämlich längst nicht mehr zu trennen, Politik und Popkultur und vielleicht müssen wir es aushalten. Wenn ehemalige Schauspieler Präsidenten werden oder Politiker nach ihrer Politikkarriere ins Unterhaltungsfernsehen wechseln – vielleicht leben wir einfach längst in einer Welt, in der das zusammengehört, sich bedingt und die Angst vor der Bagatellisierung von Politik durch Popkultur ist längst überholt? Hot take, den jeder Powi-Student im ersten Semester auch schon so denkt.

„Stand Up For Ukraine“: Berliner Clubs wollen sich solidarisch mit der Ukraine zeigen

Der Popstar-Hype um den ukrainischen Präsident Wolodymyr Selenskyj wundert einen schon kaum mehr, mittlerweile kennt jeder seine Geschichte. Jeder weiß wahrscheinlich um die Serie „Diener des Volkes“ (die man jetzt in der Arte-Mediathek gucken kann), in der er einen Lehrer spielt, der ukrainischer Präsident wird, während er während der Dreharbeiten damals im „real life“ seine politische Karriere aufgebaut hat, jeder weiß mittlerweile, dass er die ukrainische Stimme von „Paddington“ war und seine Auftritte bei „Let’s Dance“ konnte man jetzt auch immer mal wieder irgendwo sehen. Er macht kämpferische Selfie-Videos, er twittert, er wirkt wie von dem Titelblatt eines Young-Manager-Magazins rausgepurzelt. Er eignet sich viel zu gut für Helden-Memes, er ist das Beispiel, für das sich liberale Feuilletonisten für ihre „Die neue Männlichkeit“-Artikel die zehn Schreibfinger lecken. Solche Sachen sind also nur folgerichtig:

Viele mögen jetzt sagen: Krieg ist nicht lustig, Krieg ist nicht Marvel, Krieg ist kein Entertainment. Das stimmt aber nicht. Es wäre vielleicht wünschenswert, dass es nicht so ist, aber Krieg ging auch schon vor Social Media über das, was an den Fronten passierte, hinaus und hat direkten Eingang in die Unterhaltung gefunden, ob im Kino, in der Musik oder Literatur. Das geht auch gar nicht anders. Und es funktioniert auch andersrum. Marvelhelden würde es ohne Krieg und Patriotismus nicht geben. Captain America wurde in den 40ern als Propagandafigur im Krieg erfunden, viele Superhelden und Actiontypen sind angelehnt an mächtige Männer und ihre Widersacher. Nein, es ist nicht nur so, dass unbeteiligte und beteiligte Leute tun, als ginge es bei diesen und anderen Spielen um Kinofilme, Videospiele oder Fußball – sondern andersrum ist es längst ebenfalls so, dass Popkultur beherrscht ist von Ideologie, von Krieg, Nationalismus und Kapitalismus.

Und die echte Welt?

Im Internet wurde sich wieder darüber aufgeregt, dass Leute Karneval gefeiert haben. Trotz Krieg. Aus Ignoranz gegenüber dem Krieg, so die Unterstellung, pietätlos. Aber was soll man sonst machen? Im Internet durchdrehen? Allein trinken? Sachen organisieren, Geld spenden? Oder alles davon? Glaube, man kann mehreres davon an einem Tag schaffen. Bei der Rosenmontagsumzugsdemo in Köln ist mir jedenfalls aufgefallen, dass sie weitaus diverser war als jede Antifademo auf der ich je war und man sich besser austauschen konnte als im Netz. Und auch hier kann man nicht trennen, was viele getrennt haben wollen: Der Karneval war schon immer politisch. Und auch davon abgesehen kann ich nichts Falsches daran sehen, dass Leute zusammenkommen, klassenübergreifend, herkunftsübergreifend. Und wenn sie danach in die Kneipe gehen? Na und? Woher kommt das Vorurteil, dass Leute, die miteinander trinken, tanzen, reden Zeit verschwenden? Wart ihr schon mal in einer Kneipe? Da wird sich eigentlich ziemlich viel ausgetauscht und miteinander verbunden. Genau wie im Internet. Nur mit Musik. Das ist was Gutes. Es bringt nämlich nichts, wenn wir uns vereinzeln, haben wir ja die vergangenen Jahre gesehen.

Und mit diesem schönen neuen Meme sage ich jetzt Tschüssi.

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