Kolumne

Paulas Popwoche: Feel und feed, we are the world


Paula Irmschler feiert die neue FLO-LP, die „Jamel – Lauter Widerstand“-Doku, Sade Adus „Young Lion“ und spricht über das „Do They Know It’s Christmas?“-Problem.

November, der in Monatsform gegossene Hass. Der würdeloseste Monat. Der überflüssigste. Der goldene Herbst ist over und die romantische Weihnachtszeit noch nicht ganz angebrochen – „Tatsächlich Liebe“ in Dauerschleife, schnell zusammengeschusterte Weihnachtsfolgen von Serien, nervige Social-Media-Posts von Leuten, die zu feige sind mit ihren Familien über Rassismus zu diskutieren, um ihr Erbe nicht zu gefährden, und Kelly Clarksons ganzes Gedöns – das alles liegt noch vor uns. Es ist also noch ein bisschen Zeit, sich aufs Wesentliche zu konzentrieren: Einfach nur in Ruhe Musik hören. Willkommen zur musikalischsten Pop-Kolumne seit langem.

Album der Woche: ACCESS ALL AREAS von FLO

Ich hatte eigentlich vor, dass das neue Album von Linkin Park mein Album der Woche wird, aber ich fand es bisher noch nicht so überzeugend (vielleicht ein „Grower“). Tatsächlich geworden ist mein Album der Woche eines aus meinem Lieblingsgenre R’n’B und noch genauer, aus der Welt der R’n’B-Girlgroups … Denn ja, die gibt es noch oder wieder.

Hach, kein Grund, nostalgisch zu werden, aber ich werde es doch. Früher lag ich immer vorm CD-Player und schmökerte in den Booklets der Alben die Songlyrics mit – sofern diese abgedruckt waren, das war der Jackpot. War es eine CD aus der Bibliothek, musste ich die Texte zudem schnell abschreiben. Warum ich das erzähle ist, weil es mit Abstand am häufigsten CDs von Destiny’s Child waren, die ich mir auf diese Weise zugeführt habe. Da entstand meine Liebe für R’n’B-Girlgroups und offenbar ging es FLO, dem Trio aus London, ähnlich. Die erwähnen DC auch immer wieder als Vorbilder, so auch auf ihrem Debütalbum ACCESS ALL AREAS, dort werden sie im Intro gemeinsam mit den Sugababes und SWV genannt. Auch nach anderen Girlgroups wie Little Mix, TLC, All Saints und Mis-Teeq, beziehungsweise Solokünstlerinnen wie Brandy, Aaliyah und Chlöe klingen sie. Abgesehen davon haben sie natürlich auch ihren eigenen Sound, der auf ihren übertrieben schönen Harmonien basiert.

Wie üblich bei R’n’B-Girlgroups geht es auch auf AAA vor allem um die Liebe, allen voran ums Machen von ebenjener (Sex) und mit ACCESS ALL AREAS ist natürlich gemeint, dass ein gewisser „Boy“ zu allen Körperteilen Zugang bekommt, wie der gleichnamige Song verrät („Triple X in the Triple A, Baby“). Man erfährt in den meisten Songs viel darüber, wen man wie und wie lange gern „inside“ hätte. Why not? Ist doch schön! Zwischendurch geht es auch mal um die Art von Selbstliebe, die davon zehrt, dass man Geld verdient und der Ex sich selbst vögeln kann („IWHBMX“ – „I Would Hate To Be My Ex“). „Survivor“, „Independent Women“, „Bills, Bills, Bills“ und viele ähnliche Songs lassen grüßen.

Mein bisheriger Favorit: Dieses Ear-Candy über eine sich entwickelnde romantische Beziehung, die nicht dramatisch oder gefährlich oder schmerzhaft ist, sondern sich einfach gut anfühlt:

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An der „Präsi“ hat sich leider in den letzten 20 Jahren nichts geändert, R’n’B-Girlgroups vermarkten sich immer noch über genormte Sexiness. Aber ich werde trotzdem immer einen sehr soften Softspot für gemeinsam singende Frauen haben.

Charity der Woche: Gemeinsam singen

Apropos gemeinsam singen. Eine große Schwäche haben wir Popfans wohl alle für Allstar-Bands und -Zusammenkünfte. Ob „We Are The World“ von USA for Africa oder „Let The Music Heal Your Soul“ von den BRAVO All Stars – ich persönlich finde einfach alle diese Songs total schön. Es ist natürlich ein unglaubliches Happening, da kommen große Stars für diese Aufnahmen zusammen, stellen sich in ihren Alltagsklamotten unbeholfen vors Mikro, rauchen zwischendurch zusammen immer mal wieder eine, bis sie an der Reihe sind und quatschen miteinander, wie es gerade jeweils so läuft … Magisch!

Nicht so gut bis sehr schlecht sind jedoch meist die Absichten, die hinter den Projekten stecken – und die Texte sind oftmals auch fragwürdig. Mindestens paternalistisch bis offen menschenverachtend wird da gegen Armut und Krankheiten „Lärm“ gemacht, eigentlich immer über die Betroffenen hinweg, oft mit mehr Schaden als Nutzen. Dieser Nutzen jedoch soll alle Mittel heiligen, es geht um die guten alten Spenden (oder auch Charity), die eigentlich Umverteilung heißen müssten. Es ist nämlich unser komplett ungerechtes Wirtschaftssystem, das Schuld daran ist, dass die einen an Hunger sterben und die anderen in ihren Popstarvillen traurig wegen schlimmen Bildern in den Nachrichten sind.

Ein Song, der ganz besonders perfide ist, ist natürlich „Do They Know It’s Christmas?“ – ein, wie ich finde, perfekter Popsong, der aber trotzdem eine absolute Katastrophe ist. 1984 erblickte er, Dank Bob Geldof und Anhang, das Licht der Welt und treibt seit jeher sein Unwesen. Mehrfach wurde er neu aufgelegt, von Geldof selbst – mit immer wieder neuen Promis – oder auch adaptiert von anderen, in verschiedenen Ländern. Wir erinnern uns zum Beispiel alle ungern an Campino und seine Universal-Label-Gang, die 2014 Alben zu promoten hatten und sich deswegen zu Band Aid Germany zusammen fanden. Wir erinnern uns aber sicher gern an die TV AllStars, die den musikalischen Schinken 2003 neu auflegten.

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So süüüß! Aber eben immer noch mit diesem furchtbaren Text … Allen voran diese Zeilen: „Well, tonight, thank God it’s them instead of you“ oder auch „And there won’t be snow in Africa this Christmas time, the greatest gift they’ll get this year is life“ und vor allem „Where nothing ever grows, no rain, no rivers flow“. In Afrika wächst nichts, die Leute da haben nichts – aber wir Amerikaner:innen und Europäer:innen bringen es ihnen. Der kolonialistischste Popsong ever – danke für nichts, Geldof. Das ist nicht nur problematisch oder unsensibel oder schlecht gealtert,oder welche Quatschwörter man heute noch benutzt, statt zu sagen, dass etwas zutiefst ignorant und rassistisch ist.

Der schlimme Text von 1984 wurde zumindest für die 2014er-Version bereits geändert, das „White Savior“-Problem, die Negierung aller Unterschiede auf einem ganzen Kontinent und das falsche Charity-Mindset hat es aber auch nicht gelöst. Nun soll es also eine 2024-Version geben. Zu diesem Zwecke will Geldof alle möglichen Stimmen, die es in 40 Jahren Liedgeschichte gab, versammeln. Immerhin Größen wie: Bono, Bowie, Paul McCartney, George Michael, Sting, Bananarama, Kylie Minogue, Sugababes, Robbie Williams, Dido, Chris Martin, Róisín Murphy, Thom Yorke Sinéad O’Connor, One Direction und Ed Sheeran. Letztgenannter bereut seine Teilnahme von 2014 und kritisierte vor kurzem die Neuauflage in einer Instagram-Story. Geldof hatte ungefragt Sheerans Stimme nochmal benutzt, obwohl dieser heute nichts mehr von dem Projekt hält – er verwies auf die sehr schlauen Worte von Fuse ODG zur ganzen Causa.

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Fuse ODG hat zudem auch noch einen Antwort-Song veröffentlicht. Gut gegeben!

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Der unproblematischste Charity-Song ist womöglich sowieso „Lieber Gott“ von Marlon + Freunden, aber dazu vielleicht ein anderes Mal mehr.

Doku der Woche: „Jamel – Lauter Widerstand“

Viele Freunde haben auch die Lohmeyers aus Jamel. Das zugezogene Paar hat schon seit vielen Jahren die Schnauze voll von den vielen Rechten in ihrem Dorf und hat 2007 das Festival „Jamel rockt den Förster ins Leben gerufen, um ein Zeichen zu setzen. Nach einem Brandanschlag vor zehn Jahren auf eine Scheune der Lohmeyers boten Die Toten Hosen ihre Teilnahme am Festival an – seitdem zieht es andere große Acts und viele Zuschauer:innen an. Die Doku „Jamel – Lauter Widerstand“ (zu finden in der ARD-Mediathek) zeichnet diese Geschichte nach.

In einer Zeit, in der die Ergebnisse der „Ostwahlen“ (wie sie viele Medien nannten) kaum noch jemanden interessiert – und das Schicksal der neuen Bundesländer wieder den Menschen vor Ort überlassen wird, ist es umso wichtiger, ein Licht auf die kleinen Orte und ihre Strukturarmut zu werfen und auf die konkreten Konsequenzen für Kultur und Gesellschaft, die es gibt, wenn Rechte übernehmen, aufmerksam zu machen. So wie es auch in Jamel ist, denn auch das Festival der Lohmeyers ist gefährdet durch die lokale Politik.

In die Provinzen gehen, zusammenkommen, Inhalte teilen (zum Beispiel mit Ständen, bei Diskussionen), nicht nur „gegen rechts“ sein, sich nicht nur ein „gegen Nazis“ auf die Jacke kleben, nicht nur „die Liebe“ be- und auf die Demokratie schwören, sondern ganz ganz konkret werden – wofür ist man, wogegen genau, was bedeutet „rechts“, wem gehören Räume, wie kann man Geflüchteten helfen, wie beendet man staatliche Gewalt, wie erkämpfen wir Selbstbestimmungsrechte und so weiter und so fort. Für diese wichtigen Fragen können solche politischen Musikfestivals einen Raum eröffnen und nicht zuletzt auch Kraft spenden. Unbedingt weitermachen!

Song der Woche: „Young Lion“ von Sade Adu

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Und noch was richtig, richtig Schönes zum Schluss. Am Freitag erscheint TRAИƧA, eine Compilation rund um die Themen Trans und Nichtbinarität, die Acts wie Sam Smith, Faye Webster, Clairo, Adrianne Lenker, Fleet Foxes, Julien Baker, Kelela, Hunter Schafer, Sharon Van Etten und André 3000 versammelt – und Sade Adu! Sie hat einen Song für ihren trans Sohn Izaak beigesteuert – „Young Lion“.

Was bisher geschah? Hier alle Popkolumnentexte im Überblick.

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