Paulas Popwoche: Über Neil Gaiman, Pop und Konsens
Aus aktuellem Anlass: Paula Irmschler über Grooming.
Liebe Leute, Content Note: Ich schreibe nicht das erste Mal in dieser Kolumne über das Thema Grooming. Hier ist es schon öfter um sexuelle Machtausübung gegenüber jungen Menschen gegangen, ich werde mich also sicher wiederholen, aber das kennt ihr ja eh schon von mir.
Wenn es um größere Altersunterschiede geht, werde ich sehr hart, meine Freunde kennen das schon, ach du schon wieder, jaja. Was hat es hier in der Popkolumne zu suchen? Sehr viel, Grooming ist in der Popkultur nämlich allgegenwärtig. Vergangene Woche sah ich wieder ein paar YouTube-Videos über Ariana Grandes Disney-Anfänge, es gibt eine neue Arte-Doku über die Sexualisierung der jungen Britney, in der ihre Schulmädchenästhetik als „attraktiv“ bezeichnet wird – und erst vor wenigen Minuten sah ich wie Till Lindemann von Chris Martin besungen wird – Lindemann, der ja öffentlich bekannt junge Frauen „bevorzugt“, was zu viele Menschen ganz normal finden.
Letztes Jahr lachten viele über die Disses von Kendrick gegen Drake – z.B. „Tryna strike a chord and it’s probably A-Minooooor“ oder „Certified lover boy? Certified pedophile“ – aus „Not Like Us“. Der Grund: Drake wird immer wieder Grooming von Mädchen und jungen Frauen vorgeworfen und das ist in der Kultur, in der wir leben, in erster Linie ein Joke über den Mann und nicht Grund dafür, sich mit den Betroffenen zu solidarisieren.
Der Missbrauch junger Menschen von Leuten aus der Popkultur scheint aber nicht die Ausnahme zu sein, sondern schlimmerweise dazuzugehören. Es gibt ganze Listen, die sammeln, welche Pop- und Rockstars mutmaßlich oder juristisch nachgewiesen missbraucht und vergewaltigt haben, es gab Ehen mit Minderjährigen, genug Zeugnisse und Kulturprodukte über „Groupies“, es gibt immer wieder Fälle, in denen junge Frauen systematisch großen männlichen Stars „zugeführt“ wurden. Wir reden da seit Jahren drüber, es liegt alles klar vor uns. Dabei geht es aber nicht nur um ein Machtmissverhältnis zwischen Fan und Star, sondern in den meisten Fällen auch um große Age Gaps – und über letzteres reden wir meinem Gefühl nach zu wenig. Die einen naturalisieren es (Männer stünden nun mal auf junge Frauen), die anderen kennen Sex eh nur aus Pornos und kennen Sex nur als funktionale Tätigkeit, wiederum andere wollen nur über Gewalt reden, wenn sie juristisch relevant ist und dann gibt es natürlich noch Leute, die die Thematik Sex und Macht ins Private schieben wollen – unter dem Deckmantel, dass ja jede*r machen kann was er*sie will, im Grunde ist das einfach das Recht des Stärkeren – als hätte das alles nicht mit uns allen und unserer Kultur zu tun.
Aber es ist nun mal so: Wenn du ein älterer, erwachsener Mann bist und dein romantisches, sexuelles oder auch freundschaftliches Gegenüber ist ein Teenager oder Anfang 20, dann hattet ihr einfach nicht die gleiche Zeit auf diesem Planeten, um Erfahrungen zu machen, Bedürfnisse zu ergründen, Konflikte auszutragen, euch mit eurer Vergangenheit auseinanderzusetzen, über Zukunft nachzudenken, Fehler zu machen, Fehler zu wiederholen, aus ihnen zu lernen und so weiter und so fort. Wenn du ein älterer, erwachsener Mann bist, dann denk doch mal daran, wie du selbst mit 17, 19, 22, 26 warst, wie du auf romantische, sexuelle und freundschaftliche Begegnungen reagiert hast, was sie mit dir gemacht haben, wie du sie eingeordnet hast, welche Spuren sie hinterlassen haben.
Wieso aber jetzt schon wieder das Thema? Natürlich wegen Neil Gaiman, dem bekannten Autor, über den dieser Tage dieser unglaubliche Artikel bei „Vulture“ veröffentlicht wurde. In diesem geht es darum, was Gaiman mutmaßlich mit vor allem sehr viel jüngeren Frauen gemacht hat und welche Folgen das für sie hatte. Es gab im vergangenen Jahr bereits einen Podcast dazu.
Ich will an dieser Stelle nicht zusammenfassen, was ihm vorgeworfen wird, ich glaube, es braucht diese ausführlichen, kontextualisierten Erzählungen der Betroffenen. Wie schrecklich das Geschehene ist oder nicht ist, darüber wird sich eh wieder jede*r ein eigenes Bild machen. Ich will aber auf etwas eingehen, was im Zuge solcher Veröffentlichungen oft ins Spiel gebracht wird. Wenn Betroffene von Machtmissbrauch berichten, wird oft schnell reagiert mit „Sie hat doch Ja gesagt“, „Es gab Konsens“ oder sogar „Es war BDSM“. Berühmte, mutmaßliche Täter und ihre Unterstützer haben gelernt. Sie kennen die Sprache der vermeintlichen (popkulturellen) Sexpositivität und setzen sie ein. Damit kann jedes verletzendes Verhalten abgewatscht werden: Die Person hat nicht „Nein“ gesagt, die Person hat vielleicht sogar „Ja“ gesagt.
So reagiert auch Gaiman. Er veröffentlichte ein Statement auf seiner Webseite, in dem er mehrfach sagt, er habe noch nie (!) nicht-konsensuelle sexuelle Begegnungen gehabt. Allein das muss doch stutzig machen, weil ganz im Ernst: Kann irgendjemand das felsenfest von sich behaupten? Wie kann man denn nicht im Zweifel darüber sein, dass alles, was man sexuell mit anderen Personen erlebt hat, wirklich immer für alle in Ordnung und gleichberechtigt geschehen ist, vollkommen frei von Macht und Gewalt? Und wie kann man sich so sicher sein, wenn einem genau das Gegenteil vorgeworfen wird, von mehreren Frauen und wenn diese Frauen zum großen Teil sehr viel jünger und abhängiger und mit weniger Macht und Fähigkeit zur Gewalt ausgestattet sind als man selbst? Wie kann man aus der Selbstbefragung danach, ob das, was man miteinander oder aneinander getan hat, für beide nicht nur okay, sondern auch mit Lust verbunden war, völlig zweifelsfrei rausgehen? Indem man sich auf einen Konsensbegriff ausruht, der völlig – excuse my language – für den Arsch ist. Der Macht, Angst, Traumata und Manipulation ignoriert und nicht auf Lust, Gleichberechtigung und Enthusiasmus basiert.
Und noch kurz zu diesem BDSM-Ding, zu Kinks, Vorlieben und Fetischen: Ich glaube nicht, dass du mit einer vorgefertigten Vorstellung von Sexualität auf eine Person zugehen solltest, die du nicht gut kennst, deren Persönlichkeit, Erfahrungen und Gedanken du nicht kennst. Ich glaube, dass man Sexualität besser zusammen entwickelt, entdeckt, dass man zusammen ausprobiert und bespricht. Ich glaube, dass Sexualität nur konsensuell sein kann, wenn sie mit jeder Person anders abläuft. Dann ist es im Nachhinein auch nicht möglich, das ganze abzuwatschen, weil auch dazugehört, wie sich Menschen danach damit fühlen.
Ich habe das Gefühl, es gibt seit ein paar Jahren ein regelrechtes Genre im Pop, in dem FLINTA* mit den Ausbeutern ihrer jungen Körper und Unsicherheiten abrechnen. Billie Eilish hat es getan („Your Power“), Mae Martin hat es mit ihrer Serie „Feel Good“ getan, Demi Lovato hat es getan:
Demi Lovatos Fall ist ein gutes Beispiel dafür, worauf ich hinauswill. Ich erinnere mich, wie sie vor Jahren noch von dem Menschen, dem sie mit dem Song Grooming vorwirft (sie 17, er 29) geschwärmt hat. Für sie war es Liebe, die einzige, die sie als junge Person kannte. Erst als sie selbst in dem Alter des Täters war, begriff sie, was da eigentlich passiert ist, wie schief das Ganze ist.
Thought it was a teenage dream, just a fantasy
But was it yours or was it mine?
Ist es wirklich das eigene Begehren, was diese jungen Menschen mit diesen erfahrenen, mächtigen bis gewaltvollen Männern ausleben, ist es ihre Lust, ist es wirklich Liebe? Nicht wenige Frauen in meinem Umfeld stellen sich, sobald sie älter werden, diese Frage, weil viele von uns „so jemanden“ in unserer Biographie haben und wir haben lange daran zu knabbern, unser Verhältnis zu Sex und Liebe zurechtzurücken.
Neil Gaiman bedient sich in seinem Statement genau diesem Phänomen des Mitmachens. Er tut, was viele Menschen, die mit dem Vorwurf des Machtmissbrauches konfrontiert werden, tun – er guckt seine alte Nachrichten durch, die er mit den Frauen ausgetauscht hat, weist darauf hin, dass es freudige, zustimmende Äußerungen dieser Frauen gab zu vergangenen oder künftigen Begegnungen. Ich denke, dass jeder, der mal in sich geht und sich erinnert, wie und mit wem man, seitdem es Messenger gibt, kommuniziert hat, selbst darauf kommt, wie wenig das ein Zeugnis für „die Wahrheit“ in Beziehungen sein kann. Was aber ein Zeugnis dafür ist, ist verdammt nochmal, was diese Frauen nach ihrer Reflexion sagen und vor allem die Verhältnisse, die Fakten, die klar vor einem liegen: Es sind viel jüngere Frauen, weit unter 30, mit viel weniger Lebenserfahrung, in teilweise labilen wirtschaftlichen und familiären Verhältnissen, teilweise von ihm abhängig.
Ich glaube nicht, dass man seine eigene Geschichte erzählen muss, wenn man einen Punkt machen will, ich will es aber dennoch tun, weil mir dieser Punkt so unglaublich wichtig ist. Ich wurde auch gegroomt, im Alter von 13 bis 17 etwa, und der Typ könnte auf ein riesiges Repertoire von romantischen, freudigen, glücklichen Nachrichten von mir zurückgreifen. Warum? Weil ich die Aufmerksamkeit genossen habe, weil ich einsam war, weil es sonst niemanden gab, der mich begehrt hat, weil ich Liebe wollte, weil ich dachte, dass das Liebe ist, weil ich kulturell erlernt habe, dass das okay und sogar richtig ist, dass Aufmerksamkeit von erwachsenen Männern das Erstrebenswerteste ist und weil ich Angst hatte. Ich habe danach lange gebraucht, um diese falschen Vorstellungen von Lust loszuwerden, sie durch echte, eigene, auf Augenhöhe stattfindende zu ersetzen – eigentlich habe ich damit noch immer damit zu tun.
Selbst wenn Betroffene „Ja“ sagen, es macht den Missbrauch nicht richtig. Es ist eigentlich so zart, was Billie da formuliert hat, „try not to abuse your power“. Aber wirklich: Mach es doch einfach nicht. Du bist kein Tier, du schlauer, kreativer Literaturmann, du lauter, progressiver Sänger, du authentischer, gewitzter Rapper, du normalo Normalmann. Du kannst das entscheiden. Du kannst junge Leute in Ruhe lassen und sie untereinander ihre Erfahrungen machen lassen und dein Verhältnis zu Frauen, Jungsein und Lust überdenken.