Pearl Jam: „Das Leben ist unfaßbar!“


Eddie Vedder über das neue Pearl Jam-Album und seine essentiellen Einflüsse: Nahtod-Erlebnisse, Vaterschaft und das Bedürfnis, aus den USA ahzuhauen.

Vedder lädt zum Gespräch im neuen Warehouse der Band, in dem Pearl Jam einen Proberaum, ihre Fanclub- und Management- Aktivitäten unter einem Dach vereint haben. Der Interviewer, Henrik Tuxen, hat in Dänemark ein Buch veröffentlicht „I Pearl Jams fodspor – In the Footsteps of Pearl Jam“, das sich mit den Ereignissen nach dem Roskilde-Festival 2000 beschäftigt, bei dem neun Fans während des Auftritts von Pearl Jam ums Leben gekommen waren. Im Auftrag von Eddie Vedder hatte Tuxen zu den Freunden und den Familien der Opfer Kontakt aufgenommen und 2002 auf Bitte von Gitarrist Stone Gossard eine Reise durch Europa arrangiert, auf der Gossard fast alle trauernden Angehörigen traf. Eddie fragt als erstes nach den Reaktionen auf das Buch in Dänemark.

Fabelhaft: Viel positive Post von vielen Leute. Und Dankesbekundungen von Fans, die mir schreiben „Danke, daß du das Buch geschrieben hast, denn nachdem ich es gelesen habe, kann ich wieder Pearl Jam hören.“

Vedder: Ich weiß genau wie sich das anfühlt. Mir ging es so mit Kurt Cobain. Im Grunde fällt es mir immer noch schwer seine Musik anzuhören. Aber allein die Tatsache, daß wir heute über die Freunde und Familien und ihre Gefühle reden können… Irgendwann wird man das Licht sehen, aber man weiß nicht, um wie viele Ecken man gehen muß, bis es endlich kommt. Tom Waits hat es einmal treffend formuliert:

„Wußtest Du eigentlich, daß man selbst auf dem tiefsten Grund eines Brunnens immer noch nachts den Sternenhimmel sehen kann?“ Es ist verdammt hart und man kann während einer leidvollen Erfahrung nicht wirklich darauf zählen, weil man buchstäblich alles verloren hat und dafür nur ein gebrochenes Herz bekommen hat. Aber indem man einfach weiterlebt, kann aus dem Boden, der zu Asche geworden ist, auf dem alles abgebrannt ist, plötzlich fruchtbarer Boden werden. Unfaßbar, das Leben ist unfaßbar.

Bedeutet der Text vom ersten Song eures neuen Albums, „Live Wasted“, dazu passend, daß du am besten mit deinen inneren Dämonen klarkommst, indem du sie und alle dunklen Seiten des Lebens zwar kennst, dich aber wehrst, von ihnen runtergezogen zu werden ?

Vergangene Woche war ich auf einer Bestattungszeremonie. Obwohl ein junger Freund an einer unheilbaren Krankheit gestorben war, hatte ich das Gefühl, daß sich durch sein Dahinscheiden und die Zeremonie für ihn eine Energie entwickelte. Wir sind alle Surfer und erwiesen ihm mit einer Surfer-Zeremonie die letzte Ehre. 50 Jungs paddelten raus, und wenn man die Wellen hinter sich gelassen hat, faßt man sich bei den Händen, spricht letzte Wort und verstreut dann die Asche im Meer. Es war ein wunderschöner Tag und wir surften alle noch zusammen. Der ganze Tag und die Zeremonie erinnerten mich an eines: wie zerbrechlich und kostbar das Leben ist. Und dann macht man sich so seine Gedanken.

Eine Geschichte von dir und Jack Johnsons Vater macht die Runde, daß ihr beide in Hawaii vor ein paar Jahren beim Kanufahren von einer Monsterwelle erfaßt wurdet und in Seenot geroten seid. Erst nach Stunden haben euch Fischer aufgelesen …

So war’s: Sein Vater und ich paddelten vergnügt zwischen zwei hawaiianischen Inseln, als das Wetter umschlug. Der Wind frischte monsunartig auf. und als wir dabei waren, unser Kanu nach dem Wind auszurichten, kam eine Welle und wir kenterten, das Boot wurde umgedreht. Wir waren sechs Personen, drei klammerten sich am Boot fest, und drei blieben im Ozean zurück – zwei Frauen und ich. Es fühlte sich wie eine Ewigkeit an, wir mußten viele Wellen aushalten, die über uns hinwegschwappten. Das war 2001, ich selbst habe bis jetzt niemandem davon erzählt.

Hat dieses Erlebnis, knapp vorbei am Tod zu schrammen, dir einen neuen guten Appetit aufs Leben verpaßt?

Rund ein Jahr lang bevor ich ins Meer fiel, führte ich einen „jungle lifestlye“. Wir waren von der Binaural-Tour zurückgekommen, hatten Roskilde und einige persönliche Dinge erlebt und ich bin einfach ein Jahr lang verschwunden. Und während ich da nun im Ozean herumtrieb, war meine Überlebensstrategie, mich bewußt dafür zu entscheiden, allen Ballast abzustreifen, bis von mir nur noch das Wesentliche, ein einfaches menschlich-animalisches Wesen, übrigblieb. Ich fühlte mich in Verbindung mit der Natur, ich fürchtete mich nicht, geriet nicht in Panik. Fast friedlich gestimmt dachte ich darüber nach, wie wir aus dieser Situation herauskommen könnten. Ein Fischerboot hat uns schließlich gerettet. Zwei Wochen später, als ich ein vernünftiges Boot nahm, um mir die Stelle anzusehen, wurde mir richtig bewußt, wie irre weit wir draußen gewesen waren und wie kritisch unsere Situation war. Hawaiianische Fischer, die hörten, was uns passiert war, sagten mir „Es wird Zeit, daß du zurückgehst und ein paar guteTaten vollbringst, denn dein Karma ist schon komplett verbraucht“.

Du hast gesagt, daß deine neuen Songs zu den besten zählen, die du je gemacht hast. Was ist das Besondere an den Stücken und was gibt dir dieses Selbstbewußtsein ?

Die beste Musik auf diesem Planeten zu machen ist unser Streben – in Bezug auf unseren persönlichen Geschmack. Gestern war ich auf einem Konzert von Robert Pollard. Bevor wir unsere Platte in einer 14 Monate währenden Schaffensphase gemacht haben, war ich auch auf einem Konzert von Robert gewesen, das letzte von Guided By Voices. Diese Abschiedsshow war eines der besten Konzerte, das ich bis heute erlebt habe. Ich hörte genau zu und konnte nur dauernd denken, wie großartig diese Musik klingt. Wir versuchen nicht, die beste Band zu sein, wir versuchen nur, die beste und bestmögliche Musik zu machen. Die Musik muß uns unterhalten. Ich glaube, wir haben unser volles Potential erreicht, und das gibt uns Selbstbewußtsein und Freude. Wir haben geschuftet, wirklich hart gearbeitet, hatten Streitund endlose Diskussionen. Und dann haben wir die Platte ohne uns weiter den Kopf zu zerbrechen einfach herausgeschmettert. Früher haben wir die Aufnahmen schnell hinter uns gebracht. Jemand bringt einen Song, wir proben, und nehmen noch am selben Tag auf. Wir hatten nicht vor, es diesmal anders zu machen, aber es geschah einfach auf eine andere Weise und dauerte länger.

Ihr habt euch wieder schlagkräftigeren Songs mit großen Refrains zugewendet. Aber es gibt auch recht schräge Akkorde gerade bei den Arrangements der Stimmen, die an die Beatles und sogar die Beach Boys erinnern.

… Dieses Mal hatte ich so eine kleine Maschine dabei, ein digitales Acht-Spur-Gerät. Wir wurden Freunde. Normalerweise befreunde ich mich eher mit Ukulelen und Gitarren, aber diesmal war es ein kleines Stück Technologie, das mir ermöglichte, richtig gut zu arbeiten. Ich hatte die Maschine immer dabei: Mein Kind auf dem einen Arm, das Ding auf dem anderen. Man kann es in vier Minuten startklar machen und sobald ich irgendwo hinkam, suchte ich mir den besten Platz am Fenster, rückte die Möbel um und legte los.

Du erwähnst dein Kind. Es ist dein erstes Album nachdem du Vater geworden bist…

Bevor man selbst zu Eltern wird, hört man nur so klischeehafte Dinge, so was wie, daß man seine eigene Kindheit wieder erlebt und daß all diese Unschuld in dein Leben kommt. Das stimmt auch alles irgendwie, aber was ich nicht erwartet habe, ist, so dermaßen wütend zu werden. Wütend, weil es nicht mehr nur um mich geht, wenn mein Land, die USA, unseren Planeten und die G esundheit aller Menschen weltweit ge fährdet. Ich würde den Machthabern gerne diplomatisch begegnen, aber … Jetzt bin ich noch wütender, weil es nicht mehr nur um mich geht, sondern auch um meine Tochter. Ich bin sooo stinksauer, denn es ist ihre Welt, die von denen versaut wird.

Ist diese Situation der Hauptgrund dafür, daß das Album relativ aggressiv klingt?

Es ist leicht zu lamentieren, zu jammern und zu schimpfen, besonders nach ein paar Cocktails, mit Freunden – wenn einen niemand in Frage stellt. Das passiert aber eben auch mit den Republikanern und im konservativen Radio und in den Medien, wo man tendenziell für die Konservativen parteiisch ist und nichts hinterfragt wird. Und es passiert auch bei den Linken. Was ich für eine größere Herausforderung halte und was unser Job sein könnte, ist es, wichtige Fragen nach vorn zu bringen und dafür zu sorgen, daß sie beantwortet werden. Es geht darum, sich daran zu erinnern: „Denken wir über diese oder jene Dingegenug nach?“ Wir, als Band, und viele andere Leute weltweit machen sich Gedanken und sprechen darüber. Aber die Lautstärke von uns ist da draußen in der Welt und besonders in den USA auf einer Skala von eins bis zehn vielleicht bei drei oder vier. Auf acht und neun hört man dafür ganz laut nur Müll und Scheiß in den Medien, sei es Promi-Klatsch oder Politiker, die über banale Themen palavern und Bullshit reden.

Sechs Jahre nach der Tragödie in Roskilde wirst du dieses Jahr zum ersten Mal wieder in Europa auftreten. Was hat dich endlich dazu gebracht?

Alles, was in den letzten sechs Jahren in den USA passiert ist, macht es schwer in diesem Land zu bleiben. Es tat gut, vor kurzem in Lateinamerika zu spielen und davor länger in Kanada zu sein. In den USA wird es immer schwieriger, seine Objektivität nicht zu verlieren, weil der Einfluß der Medien und derer, die tagein tagaus um dich sind und wiederum von den Medien beeinflußt werden, so stark ist. Die Bürger Amerikas sind keine Weltbürger, sie sind Bürger Amerikas. Es ist wichtig auszubrechen, raus aus diesem Kontinent. Und zu sehen, daß es nicht stimmt, was uns immer eingetrichtert wird: daß wir die großartigste Nation der Welt sind. Wird sind nicht great. Unsere Ideale können es sein. Und auch was in der Unabhängigkeitserklärung steht, ist großartig. Aber all das ist auch ein Mythos und das sieht man, wenn man sich in andere Länder aufmacht. (Das Telefon klingelt; Eddie hat den Klingelton „Going Mobile“ vom Who-Album Who’s Next.) Das ist Pete, Pete Townshend ruft gerade an!

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