ME-Digitalcover

Pet Shop Boys im großen Interview: Dr. Pop & Mr. Hyde


So geht’s zu bei einer Stunde Deeptalk mit den wunderbaren Pet Shop Boys. Lest hier unsere Digital-Coverstory.

Es gibt ein paar Charaktere auf diesem Album, die Neil Tennant sein könnten. Einer ist der „New London Boy“.

NEIL: Das stimmt, das bin ich. Das Stück spielt – jetzt geht’s ein bisschen tiefer ins Werk– in der Zeit zwischen der zweiten und dritten Strophe von „Being Boring“. Ich erinnere mich noch, dass ich, als ich in den frühen Siebzigerjahren in Newcastle in den Zug nach London stieg, ein gewisses Unbehagen gefühlt habe, eine gewisse Beklemmung: Nun würde ich ein „New London Boy“ sein, acht Jahre, nachdem Bowie über „The London Boys“ geschrieben hatte, über die Mods, die damals Soho bevölkerten. Mir war klar: Mein Leben beginnt gerade neu. Ich fragte mich: Welche Hoffnungen hast du, wie wirst du deine Sexualität ausleben, und nicht zuletzt: Könntest du selbst ein Popstar werden, in dieser damals von Glamrock geprägten Ära? „New London Boy“ ist der persönlichste Song auf NONETHELESS.

Wie verliefen denn dann deine ersten Jahre in London?

NEIL: Ich habe mich früh als Musiker versucht, traf Leute aus der Musikindustrie, die sehr an mir interessiert gewesen waren. Ich denke, ich hätte jeden Vertrag unterschrieben, aber am Ende sagten sie zu mir: „Warte noch ein bisschen, das kommt noch zu früh für dich.“ Es war das größte Glück meines Lebens, dass das so passierte. Sonst wäre ich einer dieser austauschbaren englischen Balladensänger am Klavier geworden. Ein Abklatsch von …

… Elton John?

NEIL: … nein, ich mag Elton John nicht besonders, eher wie … CHRIS: … Kiki Dee!

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Und du Chris, hättest dein Architekturstudium abgeschlossen und würdest nun Häuser entwerfen?

CHRIS: Gott bewahre! Das wäre ja ein rich­tiger Job! Das Tolle an dem, womit wir unseren Lebensunterhalt verdienen, ist, dass wir nicht arbeiten müssen.

NEIL: Mein Vater hat früher zu mir gesagt, das Beste, was mir passieren könnte, wäre es, mein Hobby zum Beruf zu machen. Als ich der „New London Boy“ war, hatte ich den Traum, es zu schaffen. Ich hatte jedoch keinerlei Vorstellung davon, wie der Weg dorthin aussehen könnte. Immer, wenn ich versuchte, mir das vorzustellen, kam es mir ziemlich lächerlich vor: Was da alles passieren müsste, bis es so weit sein wird! Wie viele Zufälle und glückliche Umstände. Und dann ist es doch passiert.

Angenommen, Neil, du hättest keinen Job bei „Smash Hits“ bekommen, hättest nicht Chris eines Tages zufällig in einen HiFi-Shop getroffen, wärest kein Popstar geworden: Ist dieser Parallelwelt-Neil der Protagonist des Songs „A New Bohemia“, ein einsamer alter Mann, dem nur noch die Vergangenheit bleibt – „Your only friend is a memory of a dream“?

NEIL: Nein, nein, das bin ich nicht, auch nicht ich in einer Parallelwelt. Hinter dem Song steckt der Wunsch, noch ein­ mal Teil einer Szene zu sein. Chris und ich unterhielten uns vor einiger Zeit darü­ber, wie wir in den Neunzigern Mitglieder im Groucho Club waren, einer exklusi­ven, geschlossenen Gesellschaft, bevöl­kert von mehr oder weniger interessanten Künstlerpersönlichkeiten. Irgendwann waren wir dann nicht mehr Teil dieses Kreises, und wir sprachen darüber, dass wir es vermissen, ohne genau beziffern zu können, warum. Na ja, mittlerweile haben uns die Leute vom Groucho Club eine neue Mitgliedschaft angeboten, wir sind also wieder dabei.

CHRIS: Wir sind wieder hip.

NEIL: Auf eine seltsame Art ist das so, ja. Vor elf Jahren hatte uns unsere langjährige Plattenfirma Parlophone gekündigt, nun haben sie uns einen neuen Vertrag angeboten. Pop scheint die Phase der Alters­diskriminierung überwunden zu haben.

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Was weniger am Pop als an den neuen Alten liegt, oder?

NEIL: Mag sein. Ich liebe, wie Cher sich auf ihrer aktu­ellen Tour feiert, sie kommt auf die Bühne, im glei­chen gewagten Outfit wie 1989 zur Single „If I Could Turn Back Time“, und fragt: „Und, was macht eure Oma heute Abend?“ Damit macht Cher die ultima­tive Aussage über das Älterwerden in der Popmusik. Da können die alten Rockstars nur hinterherhecheln.

Warum ist Pop dem Rock überlegen?

NEIL: Weil es im Pop um Gefühle, Emotionen und Empathie geht – und in der Rockmusik lediglich um coole Gesten. Was gibt es in der Rockmusik zu bespre­chen? Ich finde dort nichts, worüber ich reden könnte. Es gibt heute keine Rockmusik mehr, zumindest keine, die die Agenda bestimmt. Pop hat den Rock besiegt. Ein haushoher Favoritensieg. So sehr mein Herz für den Pop schlägt, ich wünschte, Rock könnte ein Come­ back feiern. Ich wünschte, es gäbe junge Kids, die auf­ regende Rockmusik mit großartigen Songs und einer gewissen Attitüde spielen. Aber da ist nichts, da ist nur noch Pop. Und der ist nicht sonderlich interessant.

Was fehlt euch am Modern Pop?

NEIL: Ich denke, wir müssen verstärkt die Negativi­tät unseres Lebens zum Ausdruck bringen, anstatt nur darüber zu singen, warum man seinen Freund oder seine Freundin abserviert. Das sind die bestim­menden Inhalte bei Taylor Swift und den vielen, die ihr folgen: Du bist verliebt, du bist glücklich, du bist weniger glücklich, du machst Schluss, du schreibst ein Album, in dem du schimpfst und deine Einsamkeit thematisierst. Das ist die Formel, die zu großem Erfolg führt, mir aber nicht besonders interessant zu sein scheint. Es gibt doch diese negative Energie da drau­ ßen, warum taucht diese in den Popsongs nicht auf?

Weil Pop immer auch Eskapismus ist.

NEIL: Aber man kann das doch miteinander verbinden! Was heute am meisten geschätzt wird, sind Emoti­onen, ist die Authentizität der eigenen Gefühle. Wir leben aber doch in einer Welt, die grauenhaft ist, ja, aber eben auch interessant. Es gibt so viele Dinge, die geschehen … Warum sind wir die Einzigen, die einen Song über Putin schreiben?

Du meinst „Living In The Past“, eure Single aus dem Jahr 2023.

CHRIS: Und es gibt noch einen, „Putin’s Underpants“. Wo kann man den denn hören?

NEIL: Der ist bislang nur ein grobes Demo, wir arbei­ten weiter daran. Es geht um Putin in Unterhosen, um seine Geheimnisse, aber auch um die vergiftete Unterhose, die Nawalny 2020 beinahe zum Verhäng­nis geworden war.

CHRIS: Ich liebe, was Nawalny später im Gerichtssaal gesagt hat: „Wir erinnern uns an Alexander II. den großen Befreier, an Jaroslaw den Wei­sen. Nun, und jetzt haben wir Vladimir den Unterhosenvergifter. So wird er in die Geschichte eingehen.“ Der Text von Neil wird dazu beitragen, und so was kriegst du nicht von Adele.

ME-Premiere: Schaut hier den exklusiven Live-Videomitschnitt der Pet Shop Boys.