Pink Floyd – Musik Spielt Die Zweite Geige
Die Mauer ist das Symbol für die Unmenschlichkeit der modernen Gesellschaft, für Paranoia, Neurosen und die Kontaktlosigkeit ihrer Bewohner. Vierzig Meter lang, zwölf Meter hoch — so steht sie bei Pink Floyd zwischen den Akteuren und dem Publikum. Die Gerüchteküche war mächtig am qualmen. Floyds traditionelle Geheimniskrämerei hatte schon Wochen vorher die abenteuerlichsten Spekulationen zu Tage gefördert. Daß während der Show eine überdimensionale Mauer aufgebaut würde, war schon bald kein Geheimnis mehr. Reichlich wirr hingegen klang die Information, daß Pink Floyd überhaupt nicht spielen würde! Nach einigen Songs, so flüsterten die wohlunterrichteten Quellen, würde die Gruppe hinter der Mauer durch eine anonyme zweite Gruppe ersetzt, die — von den Zuschauern unbemerkt – in die Rolle von Pink Floyd schlüpfen würde und so die „Isolation und Austauschbarkeit von Stars“ demonstrieren würde. Humbug, Mattscheibe? Rad ab? Sollte man meinen, doch der Beginn des Konzertes schien selbst die wildesten Gerüchte zu bestätigen. Denn im Scheinwerferlicht und Beifall steht… nicht etwa Pink Floyd, sondern tatsächlich eine zweite Crew, die seelenruhig Pink Floyd spielt und von den Zuschauern, soweit sie nicht Omas Opernglas eingepackt haben, auch überhaupt nicht als Attrappe erkannt wird. Snowy White, Andy Bown, Willie Wilson und Peter Woods bilden diese zweite Band, die im weiteren Verlauf Pink Floyd verstärkt, in einigen Passagen aber auch alleine den Ton angibt. Trotz achtköpfiger Besatzung plus Chor und Geräusch-Tapes ist die Musik in „The Wall“ derjenige Bestandteil, der die wenigste Aufmerksamkeit beansprucht; ein untermalender Soundtrack, dessen musikalische Essenz meist fad uns wässrig bleibt – von einigen Gilmour-Soli vielleicht einmal abgesehen. In weit größerem Umfang als auf ihrer „Animals“-Tournee wird diesmal mit allen erdenklichen visuellen Hilfsmitteln gezaubert. Zunächst einmal ist da natürlich die MAUER. 40 Meter lang und 12 Meter hoch ist sie und wird während des Konzertes aus weißen Polyester-Blökken aufeinandergetürmt. Nach etwa 20 Minuten wächst sievon den Seiten her bedrohlich zusammen – und nach 45 Minuten, kurz vor der Pause, steht das Monster mitten in der Halle und rührt sieh nicht vom Fleck. Man hört dahinter Pink Floyd (?) spielen und fragt sich entgeistert, wie zum Teufel es denn nun wohl weitergehen soll… Die Neugier wird arg auf die Folter gespannt. Pink Floyd beginnt den zweiten Set hinter der Mauer, mal sieht man David Gilmour, der oben auf der Mauer ein Solo spielt, dann steckt Roger Waters seine Rübe durch ein Loch – und sehließlich, in der dritten Nummer, erscheint die ganze Gruppe blitzschnell vor der Mauer und beendet dort den zweiten Teil. Und die Mauer? Die kracht natürlich zusammen, oder besser gesagt: Sie klapp! kunstvoll in sich zusammen, und der ohrenbetäubende Lärm stammt auch nicht von den Mauerbrokken, sondern schlicht und einfach von vorbespielten Tapes. Aber trotzdem: Es sieht alles richtig schön realistisch aus, fast so schön wie damals im Film“.Earthquake“. bei dem man so angenehm im Kinosessel vibrierte. Zur letzten Nummer erscheint die gesamte Band mit Akkordeon, Mandolinen und akustischen Gitarren vor den Trümmern und marschiert, wie Überlebende in den Ruinen eines Atomkrieges, im Gänsemarsch von der Bühne. Natürlich ist das, alte Floyd-Hasen können ein Lied davon singen, alles bis zum Exzess mit Symbolen und Symbölchen überladen. Wenn man einmal, (nur um dem alten Deutschlehrer eine Freude zu machen), den unvermeidlichen Interpretations-Hebel ansetzt, dann sieht das Ergebnis etwa so aus:“.Die Mauer ist das Symbol für die Unmenschlichkeit der modernen Gesellschaft, für Paranoia, Neurosen und die Kontaktlosigkeit ihrer Bewohner. Der Horror dieser Isolation wird in allen unschönen Details liebevoll ausgemalt. Von dem Maler Gerald Scarfe stammen drei riesenhafte, aufblasbare Marionetten, die wie fleischgewordene Alpträume vor der weißen Mauer zucken. Der Lehrer, die Mutter und die Frau (?!) sind für Pink Floyd die drei Prototypen, die das Individuum für die Gesellschaft weichklopfen, indem sie ihm jegliche persönliche Freiheit rauben. Eine andere verhängnisvolle Zwangsjacke ist das Fernsehen. Während Roger Waters in „Comfortably Nomb“ vom betäubenden Effekt des Fernsehens singt, wird von innen eine Plattform mit einem eingerichteten Wohnzimmer aus der Mauer geschoben. Ein Mann sitzt bewegungslos im Sessel und starrt auf’s TV. Gerald Scarfe ist auch für eine Vielzahl von phantastischen Film-Collagen und Trickfilmen verantwortlich, die mit mehreren Projektoren auf die weiiSc Wand geworfen werden. Alle wimmeln sie von Horror und Alpträumen, von undefinierbaren Wesen, die sich gegenseitig schlucken und wieder ausspucken, ein wahrhaft beklemmendes Inferno. Hätte nicht Walt Disney, sondern Franz Kafka Disneyland gebaut – so ungefähr würde es aussehen. Im zweiten Teil wird die Dauer-Psychose langsam gelüftet. Die Gruppe erscheint in schwarzen Anzügen, auf der Brust kleben rote Sticker, auf denen wiederum zwei gekreuzte Hämmer dargestellt sind. Ein Motiv, das nun auch in den begleitenden Trickfilmen immer häufiger auftaucht. Es steht als Symbol für den Kampf gegen die Mauer, das Erkennungszeichen der Stadt-Partisanen, die sich nicht von der Gesellschaft lebendig einmauern lassen wollen. Und daß dieser Kampf zu gewinnen ist, das beweist schließlich das ohrenbetäubende Ende der Mauer. Das letzte Stück des Konzertes, vor den Trümmern nur mit akustischen Instrumenten gespielt, ist wie das Aufwachen aus einem Alptraum, wie das Ablegen von Ketten, die die Gesellschaft dem Individuum angelegt hat. Nur — was hat das alles mit Rockmusik zu tun?, fragt sich hier natürlich der beinharte Pink Floyd-Fan. Eine berechtigte Frage. „The Wall ist ein so ambitioniertes Stück Multi-Media-Theater, daß die reine Musik dabei nur noch die zweite Geige spielt. Pink Floyd sind wirklich die letzten populären Pioniere des Multi-Media-Konzepts, das in den 60er Jahren eine so rosige Zukunft zu haben schien, dann aber doch wieder schnell in der Versenkung verschwand. Man hat die Richtung unbeirrbar weiterverfolgt und mit „The Wall“ ein atemberaubendes Niveau erreicht. Letztlich ist es natürlich Roger Waters, auf dessen Schulter die gesainte Last liegt. Und Waters ist nun einmal weniger Musiker als Medien-Jongleur, ein Mann, der eine Konzeption bis in alle Einzelheiten, duiehplanen kann, vom Text über die Musik zum Film, von visuellen Leitmotiven wie dem „Wall“ über die Cover-Gestallung bis hin zur Werbung. Gilmour, der Musiker, gerät durch Waters Aufstieg insMulti-Media-Paradies ständig mehr ins Abseits. Während Waters als Autor und Regisseur der Show verzeichnet ist, findet man Gilmour mit dem Titel des „musical director“ ab. Ein Trostpflaster, das angesichts der Tatsache, daß das meiste Material ausschließlich von Waters stammt, allerdings wenig zählt. Es wird unter den gegebenen Umständen sicher nicht allzu lange dauern, bis David Gilmour den angestauten Druck in einem neuen Solo-Album ablassen muß. Was die Zukunft von Pink Floyd betrifft, so wird darüber wieder einmal nur hinter vorgehaltener Hand geheimnisvoll getuschelt. Ob die Show je nach Europa kommen wird, steht angesichts der immensen Kosten offensichtlich stark in Frage. Immerhin arbeitete eine Crew von bis zu 60 Mann ein halbes Jahr an der Produktion und obwohl 150.000 Zuschauer bei den 1 2 Konzerten in LA und NY Preise zwischen 10.– und 20.- Dollar zahlten, verkündete das Management einen angeblichen Verlust von 1,5 Millionen Mark. Aber bei Pink Floyd weiß man nie. Geheimniskrämerei und unorthodoxe Schachzüge sind schon immer ihre Spezialität gewesen und es wäre auch keine Überraschung, wenn sie in einigen Monaten plötzlich doch auf deutschen Bühnen stehen sollten.