PJ Harvey: Lust am Leben
PJ Harvey will nicht länger die verkopfte Künstlerin sein. Die Deutschland-Konzerte versprechen spannend zu werden.
„Du machst mich einfach fertig“, schreit ein ziemlich aufgeregter Besucher in der New Yorker Knitting Factory. Ein anderer brüllt: „Du siehst Wahnsinn aus!“ Oben auf der Bühne steht PollyJean Harvey. Sie legt gerade eine Pause zwischen zwei Songs ein. Sie trägt eine tief dekolletierte Bluse, dazu einen schwarzen, geschlitzten Rock und hochhackige Stiefel. Unser aufgeregter Freund hat Recht – sie sieht wirklich sehr gut aus. Ihre Antwort an die Zwischenrufer fällt kurz aus.“Danke“, sagt sie in ihrer sehr höflichen, aber auch sehr englischen Art, „ihr seid sehr nett.“ Obwohl sie durch und durch Engländerin ist, scheint PJ sich inzwischen mit New York angefreundet zu haben. Von April bis August letzten Jahres lebte sie hier, sammelte Material für ihr sechstes Album „Stories From The City, Stories From The Sea“. Das Cover zeigt PJ Harvey auf einer Straße irgendwo in Manhattan, die Texte beziehen sich auf Little Italy, Chinatown und Brooklyn.
Jetzt ist sie für zwei kleine Shows wieder nach New York gekommen, zusammen mit ihrer neuen Band: Am Schlagzeug Rob Ellis, am Bass und am Keyboard Eric Drew Feldman, der früher mal mit Captain Beefheart musizierte. Daneben Margaret Fielder von Laika, die Gitarre und Cello bedient, sowie Gitarrist Tim Farthing. Dreimal erst haben sie in dieser Besetzung zusammen gespielt, einmal davon im legendären Viper Room in Los Angeles. Und heute eben in der kleinen Knitting Factory, die mit 200 Leuten randvoll ist.
Die neuen Songs passen perfekt zu dem familiären Ambiente. Abgespeckt und gitarrenlastig kommen sie daher, nicht so ausgeschmückt und artifiziell wie auf den beiden letzten Alben „To Bring You My Love“ (1995) und „Is This Desire“ (1998).“Es ist eine Rückkehr zu traditionellerem Songwriting“, erzählt sie später bei einem Glas Weißwein an der Hotelbar. „Die Jahre zuvor wollte ich immer durch Soundspielereien eine gewisse Atmosphäre schaffen, jetzt vertraue ich wieder mehr auf die Stärke der Songs. Auf der musikalischen Reise, die ich unternommen habe, bin ich ein bisschen vom Weg abgekommen.“
Zurück zu den Wurzeln also. Das unterstreicht auch die Setlist, die mit „Hair“ und dem manischen „Sheela-Na-Gig“ zwei Songs aus dem Debütalbum „Dry“ enthält, die bis heute nichts von ihrer Kraft eingebüßt haben. Neun Stücke stammen von dem aktuellen Album „Stories From The City, Stories From The Sea“. Darunter sind „TheWhores Hüstle And The Hustlers Whore“,“Good Fortune“, „A Place Called Home“ sowie „One Line“ und „This Is Love“. Dazu „Send His Love To Me“ aus dem Album „To Bring You My Love“ sowie „Nickel Under Your Feet“, ursprünglich geschrieben von einem gewissen Marc Blitzstein, seines Zeichens Kumpel von Leonard Bernstein und Bewunderer Brechts. PJ hatte den Song für den Soundtrack zu dem Tim Robbins-Film „Cradle Will Rock“ aufgenommen.
Die Show ist richtig gut. Was an einer der herausragenden Qualitäten von PJ Harvey liegen mag. Es ist ein Trugschluss, dass es in der Rockmusik nur zwei Spielarten gibt, nämlich die Verstärker bis zum Anschlag aufzureißen oder aber sich hinzusetzen und einen auf Kunst zu machen. PJ Harvey und ihre Band finden nämlich einen wunderbaren Mittelweg. Allein das ungehobelte Intro von „Big Exit“ beweist schon, dass sie genauso viel von den Straßenköter-Aspekten des Rock’n’Roll verstehen wie jede andere Garagenband. Auf der anderen Seite zeigen die verhuschten, samtpfotigen Momente, die das Herzstück von „One Line“ bilden, dass sie die ruhigen, fragilen Töne genauso beherrschen. Das fiebrige „Kamikaze“ macht dann aber deutlich, wo am heutigen Abend der musikalische Schwerpunkt liegen soll: weniger Kopf, mehr Bauch. Mehr Rock’n’Roll. Also „Louie Louie“ statt „OK Computer“, mehr Iggy Pop als David Sylvian.
Ein Grund dafür könnte der Flamenco-Unterricht sein, den PJ Harvey genommen hat: „Es hat meine Vorstellungskraft erweitert was alles möglich ist. Flamenco gibt dir so viel Kraft. Er erfüllt dich mit Leidenschaft und Stärke.“ Und das merkt man ihr deutlich an.