Professor Pop


Der heißeste Lehrstuhl der Welt: In Berlin doziert Prof. Dr. Peter Wicke über Michael Jackson und Madonna, Seminare illustriert er mit MTV. Pro- fessor Pop ist der erste seiner Art und forscht mit eisernem Grundsatz: Nicht jede Theorie ist grau.

Noch nicht mal die Berliner Taxifahrer kommen mit den Folgen der Wiedervereinigung klar. „Verdammt, hier sperr ’n ’se och jeden Tag ’ne andere Straße ab, „brummt die Stimme auf dem Fahrersitz. Zum zweiten Mal umrunden wir ein Carre unfreundlicher Häuserfronten. S-Bahnhof Friedrichstraße: Die längste Zeit war dieser Ort für meine westliche Arroganz vornehmlich Synonym für billige Zigaretten. Heute kaufen Studenten dort in frisch polierten Buchläden alles, was sie lesen wollen. Ein paar hundert Meter weiter befindet sich die Ostberliner Humboldtuniversität, und hier lehrt ein Mann, der sich auch schon zu DDR-Zeiten wesentlich mehr mit der Kultur der (westlichen) Gegenseite auseinandergesetzt hat: Prof. Dr. Peter Wicke ist der erste Pop-Professor der Welt.

Der Taxifahrer hat davon noch nichts gehört, aber der wäre ohnehin besser in einem Grundkurs Geographie aufgehoben. Die ernst dreinblikkenden Studenten indes, die mit Geigenkaslen bewaffnet die Tür des musikwissenschaftlichen Instituts passieren, scheinen ihre Berufung bereits gefunden zu haben. Still verschwinden sie im Parterre des düsteren Altbaus, um in meiner Phantasie unter dem strengen Auge seriöser Lehrmeister zur künstlerischen Vollendung gequält zu werden.

„Herr Wicke? Da müssen ’se ganz nach oben rauf.“ Die Dame im verstaubten Glaskasten macht dem genüßlichen Alptraum von Folter und Grausamkeit ein vorzeitiges Ende. Der Weg über die knarzenden Stufen ins Obergeschoß läßt dafür meine verkorkste Akademikervergangenheit wieder aufleben: Seminarpläne und Prüfungstermine an schwarzen Brettern, im Büro des Herrn Professor schließlich schwergewichtige Bücherregale. Immerhin, Keith Richards als Poster an der Wand beruhigt die Nerven. Doch was, verdammt noch mal, hat das mit dem naiven Glück zu tun, das mir meine Lieblingsplatten bescheren, und welcher gestandene Musiker würde sich Gedanken machen über die „Metamorphosen des Starkults in verschiedenen sozialen Realitäten von Rockmusik“? Oder, intelligenter gefragt, ist es nicht absurd, bloße Unterhaltungskultur zum wissenschafthchen Forschungsobjekt zu machen? Diese Frage hat er schon öfter gehört, nicht zuletzt von Kollegen aus dem klassischen Lager. „Natürlich nicht. Wenn man sich an Universitäten mit der Chorbewegung im 14. Jahrhundert beschäftigen kann, muß es auch möglich sein, Prozesse zu beleuchten, die das Musikleben heute ausmachen. Popmusik ist allgegenwärtig in allen Industriebereichen. Da stellt sich doch die Frage, was dabei über den individuellen Spaß des Zuhörers hinaus abläuft. “ Die hehre Kunst in der unteren Etage hat da, wie er meint, ein überschaubareres Feld zu bestellen als das von ihm geleitete „Forschungszentrum populäre Musik“. „Bei Beethoven können sie sich mit den Noten beschäftigen und damit ist es gut. Wir haben es mit sozialen, kulturellen, ökonomischen und medialen Fragen zu tun.“

Industriestrukturen, Urheberrecht, Fanverhalten, Rockgeschichte, Kulturpolitik, der Weg zum studierten Popwissenschaftler geht über eine gut sortierte Plattensammlung weit hinaus. Die von Peter Wicke herangezogenen Musikfachleute verdienen ihre Brötchen bei Plattenfirmen, Medien oder auch kurz vor Ort des Geschehens im lokalen Kulturbetrieb. Basisarbeit ist ein primäres Anliegen für die Popforscher, denn dort wo Musik im Urzustand stattfindet, etwa in kommunalen Jugendclubs, wird sie “ viel zu oft von ausrangierten Finanzleuten oder Rechtsanwälten verwaltet, die zur eigentlichen Sache überhaupt kein sinnliches Verhältnis haben. „

Wicke selber hat sein klassisches Musikstudium in der ehemaligen DDR „aus Überzeugung“ begonnen. „Aber bald dachte ich mir, das ist nur auszuhalten, wenn ich mich mit dem beschäftige, was mir wirklich Spaß macht.“ Das war altersgemäß Popund Rockmusik, und an den alten Autoritäten vorbei richtete er sich sein eigenes Forschungsgebiet ein. Sein Standort war dabei kein Hindernis:

„In Ostberlin hat man über die Westmedien alles mitbekommen, was musikalisch passierte. Da wurden nachts im Radio ganze Alben gespielt, damit wir sie mitschneiden konnten. „

Auf Forschungsreisen in die USA öffnete ihm der Exotenstatus des Diktatur-Geknechteten manche sonst eisern verschlossene Tur. Er traf Michael Jackson und Madonna, auch wenn der Eintritt in den New Yorker Club, wo Madame zum halbstündigen Plausch erschien, ihn sein Budget für die nächsten zwei Monate kostete. Dafür war sie „nett“ und überraschend „natürlich „, und das ist das Eindrucksvollste, was einem Professor für Pop bei Begegnungen mit den Statisten seiner Disziplin passieren kann. Denn aus dem „Fanalter“ ist der 42jährige natürlich schon lange raus. Heute freut er sich über Aretha Franklins gesammelte Werke, die er unlängst auf CD erworben hat, und sträubt sich seine Lieblingsband zu benennen. Womit wir wieder am Graben zwischen Wissenschaft und Vergnügen wären, Herr Professor. „Und wer sucht nach dem Sinn der Sexualwissenschaft?“ Gute Frage.