Hartmut, der Harmlose: PUR sind eine Band für all die Vergessenen
Wer Wandtattoos und „Der kleine Prinz“ gut findet, mag mutmaßlich auch PUR, die kommerziell erfolgreichste deutsche Schlagerpopband der Neunziger. Aber ist die wirklich so schlimm?
1992 in einer Turnhalle am Niederrhein. Die katholische Dorfkirche läutet 200 Meter weiter zum Feierabend. Ich muss elf Jahre alt gewesen sein, als mir Lars Kowal aus dem Tischtennisverein mit Leuchten in den Augen das erste Live-Album von PUR auslieh. Lars war mindestens zwei Jahre älter als ich und deshalb automatisch cooler oder weiser. Der ewige Irrglaube der Jüngeren: Sein Musikgeschmack konnte so scheiße nicht sein, dachte ich. Ich hatte bis dahin einerseits zwar schon „Ein kleines bisschen Horrorschau“ von den Toten Hosen gehört, andererseits Stimmbruch und Schamhaarwuchs noch vor mir. PUR, diese Seelenfischer, erwischten mich an meinem wundesten Punkt: Ich war auf der Suche nach meiner eigenen Identität und neuer Musik, konnte aber zeitgleich echte Emotionen noch nicht von aufgesetzten unterscheiden und hatte keine Ahnung vom Leben und vom Lieben.
Klar, im Rückblick ist „Wenn sie diesen Tango hört“ das „80 Millionen“ für die Generation Ü-70. „Prinzessin“ singt Hartmut Engler wahlweise für seine Freundin, seine Tochter oder seine Katze. PURs Hit „Lena“ hat immerhin die die Alki-Zeile „Ich lieb Dich sonntagsblau“ hervorgebracht. Ihre ach so kapitalismuskritische a-cappella-Nummer „D-Mark“ ist an den Prinzen schuld. Aber was soll ich sagen: Natürlich kriegten Hymnen-Hartmut und seine alten Männer mich, zumindest für ein paar Wochen. Ich kann bis heute alle Texte dieses ersten Live-Albums mitsingen.
Abenteuerland Allgemeinplatz
Man kann PUR sehr einfach hassen. Für Hartmut Englers Vokuhila, sein Rattenschwänzchen, seine Jacketts, sein Dauergrinsen, seine Texte, seine watteweich geballte Faust, sein Heile-Welt-Blabla. Für den „PUR-Hitmix“. Für Ohrwürmer wie „Hör gut zu“, „Ein graues Haar“, „Abenteuerland“ und „Ich lieb‘ Dich (egal wie das klingt)“. Dafür, dass sie als kommerziell erfolgreichste deutsche Band der Neunziger Vorläufer für all die Bouranis, Bendzkos und Giesingers waren. Dafür, dass sie, obwohl von Grönemeyer inspiriert, Schlager in den Pop brachten. Für ihre in Worthülsen gekippte Nichtigkeit, das Vorgaukeln großer und kleiner Emotionen, für Zeilen, die einerseits so gesichtslos und austauschbar wie die Erdkundelehrer-Lookalike-Band selbst daherkamen, andererseits wegen eben dieser Allgemeinplatzigkeit aber von allen gefühlt wurden konnten. Doch bitte: Wie kitschig, aus der Welt gefallen und gleichzeitig stumpfschön ist es bitte, wenn Zehntausende Textzeilen wie „Halt mich, halt mich fest und drück mich, so fest wie du kannst“ („Funkelperlenaugen“) mitjauchzen, während sie die eine Hand emporrecken und mit der anderen wahlweise die Hand ihrer Begleitung oder eine Diddl-Maus umklammern?
Abgeholt hatte Engler damals seine Gefolgschaft mit einem billigen Trick. In „Lied für all die Vergessenen“ singt er:
„Das ist ein Lied für all die Vergessenen
Die nie im Rampenlicht stehn
Für alle die, die nie drauf versessen sind
Die ganz großen Räder zu drehn“
Diese zutraulichen Textzeilen klingen unfreiwillig unsozial: In ihnen schwingt eine – immerhin erkannte – Arroganz des Verfassers mit, dass eben nicht jeder so erfolgreich sein kann wie er selbst. In Wahrheit aber geht es Engler natürlich um all die Menschen, die sich unbemerkt von irgendeiner Öffentlichkeit für ihre Familie und ihr direktes Umfeld einsetzen und aufopfern. Für die Abrackerer und Auf-der-Strecke-Gebliebenen, denen bisher niemand dankte, und es auch nicht würde, wenn es PUR nicht gäbe. Und somit um Menschen, die ein Wir-Gefühl und ein anerkennendes Schulterklopfen wirklich dringend nötig haben. Eltern, Arbeiter*innen, so genannte Systemrelevante, Rädchen. PUR spendieren es ihnen, so wie 2020 für Pfleger*innen von den Balkonen aus applaudiert wurde. Musik soll nicht nur austeilen, sondern vereinen. Die ewigen Dadrocker schafften es, mit ihrer Musik scheinbar Ausgegrenzte einzugrenzen und dabei nichts als Liebe zu säen. Coldplay machen seit ein paar Jahren im Grunde nicht viel anders (manches aber doch).
Die Welt, so funktioniert nostalgische Verklärung, war damals wohl noch eine bessere, sie ist 30 Jahre später mindestens eine andere. PUR stammen aus Bietigheim-Bissingen, heute auch die Heimat von Rappern wie Bausa, Shindy und RIN. Man möchte meinen, dass PUR und ihre Fans mit derart expliziter, nun ja, Straßenmusik nichts anfangen können. Aber Engler ist schließlich jung geblieben. 2018 äußerte er in einem Interview zu ihrem aktuellen, insgesamt 16. Album ZWISCHEN DEN WELTEN den Wunsch, mit ihnen zusammenzuarbeiten. Es klang wie eine Drohung: „Meine Söhne wissen, wo die abends unterwegs sind. Ich habe zwar noch keinen Kontakt, aber ich werde ihn suchen.“
Ein wiederkehrendes Element auf PUR-Platten war übrigens lange Zeit der des Charakters Kowalski. Mir dämmert: Vielleicht war der Grund, warum mein Dorfbekannter Lars Kowal damals derart von PUR begeistert war, ein noch profanerer als der, warum diese Band so viele musikalisch vielleicht nicht tiefergrabend interessierte, im Herzen aber gute Menschen erreicht.