R.E.M. In Athens/ Georgia – Notizen aus der Provinz


New York und L.A. sind Welten entfernt. Nur hier, im Herzen des amerikanischen Hinterlandes, konnte sich eine Band entwickeln, die das Fähnlein des engagierten Gitarren-Rock glaubwürdig hochhalten kann. ME/Sounds besuchte die "Band des denkenden Mannes" in ihrer intellektuellen Idylle.

An den Fassaden des Holiday Inn und des Ramada Hotel hängen Schilder mit Durchhalteparolen für die Landsleute am anderen Ende der Welt. Ein Gruß an unsere Truppen am Golf.

Unten dagegen, auf dem Gelände der Athens University. beäugt von Vögeln und Eichhörnchen, steht unter Bäumen das „Friedenslager“. Den ganzen Tag über halten Studenten in der milden, wenig wüstenhaften Vorfrühlingswärme Plakate hoch, erinnern an das Elend der Unschuldigen im Bombenhagel, fordern Rüstungskontrolle, bitten mit schlichten, aber aufrichtigen Parolen um ein Ende der Feindseligkeiten:

Amerika, wo ist dein Herz geblieben?

Ein Gutteil amerikanischer Friedfertigkeit scheint in Athens konzentriert zu sein. Am Ausgang des Wuxtry Record Store — in dem Peter Bück früher Platten verkaufte — wünscht ein Schild Have a nice LIFE. Die meisten Bewohner dieser kleinen Stadt (etwa 50.000 ständige Einwohner, zu denen sich jedes Jahr noch einmal halb soviel Studenten gesellen) halten sich daran. Für den Besucher, eher an den harschen Umgangston in New York gewöhnt, ein überwältigend gastfreundlicher Ort. „HU Wie geht’s dir denn so?“ fragen Wildfremde auf der Straße.

Obwohl keiner in der Band aus Athens stammt, sind sie zu mehr als nur Lokalhelden aufgestiegen. Es scheint, als ob jeder in der Stadt sie persönlich kennt, und in jedem Geschäft bekommt man eine R.E.M.-Geschichte aus erster Hand aufgetischt. Das Mädchen in der Apotheke erzählt, daß sie es bis jetzt geschafft hat, bei jedem R.E.M.Video dabeizusein — die Band konnte es ihr, der Hauptlieferantin diverser Hangover-Mittelchen. unmöglich abschlagen. Im Jackson Street Bookstore werde ich darüber aufgeklärt, daß Peter Bück derzeit über den gesammelten Werken von Thomas Mann brütet. (Was Bück später bestätigt.) In einem Platteniaden zieht der Verkäufer aus Dutzenden von R.E.M.-Bootlegs diejenigen heraus, die auch den Musikern zusagen. (Welche andere Band würde wohl den Verkauf von Bootlegs in einem Laden tolerieren, der nur einen Steinwurf von ihrem Hauptquartier entfernt ist?) „Willkommen bei den Verrückten!“, grinst Jefferson Holt, seit zehn Jahren Manager der Band und in ihrem Song „Little America“ verewigt, wo es im Refrain heißt: Jefferson, I think we’re lost“. In den Räumen von R.E.M/Athens Ltd herrscht reges Treiben: In jedem der vier winzigen Büros wird ein Bandmitglied interviewt, eine französisches Filmteam eilt kabelbehängt über die Flure, eine Sekretärin ruft etwas von einem Fax von Wim Wenders, das gerade angekommen ist. (R.E.M. schreiben Musik für das neue Wenders-Werk.) Ich bin mit Stipe verabredet, aber der hat gerade herausgefunden, daß Noam Chomsky, Linguist, Schriftsteller und Bürgerrechtler, einen Vortrag an der Universität hält. Und zwar in fünf Minuten. „Ich bin ein großer Fan von Chomsky… und letztes Jahr in Washington habe ich ihn ganz knapp verpaßt. Ich hatte versprochen, für die Indigo Girls Backup zu singen, und stand in diesem Club, doo-dooo-doo hier und trala-la da, während sie ein paar Straßen weiter diskutierten. Meinst du, wir könnten uns vielleicht heute abend treffen? Um halb neun in der Globe Bar?“

Und weg ist er…

Die nächsten zwei Stunden unterhalte ich mich mit Schlagzeuger Bill Berry. Bassist/Keyboarder Mike Mills und Gitarrist Peter Bück, die mir alles über OUT OF TIME erzählen, das neue R.E.M.-Album. das in Princes Paisley Park Studios aufgenommen wurde. „Baroque’n’roll“ ist Bucks Urteil, in Anspielung auf diesmal dominierende Keyboards und Streicher. Eine Tour ist anläßlich dieses Albums nicht vorgesehen — das Material ist für Live-Auftritte wenig geeignet, und außerdem sind R.E.M.-Tourneen mittlerweise zu Mammut-Unternehmen geworden. Die GREEN-Tour, dokumentiert in Stipes „Tourfilm“, zog sich über zwei Jahre hin. Solange dauert es, bis man Gewinn macht, erklärt Bück, wenn man 20 Roadies und tonnenweise Equipment braucht und ohne Unterstützung von Sponsoren in großen Hallen spielt. Laut Bill Berry hat der Verzicht auch noch andere Gründe: „Ich kann mir nicht vorstellen, herumzuziehen und It’s The End Of The World As We Know li (Amt I Feel Fine)‘ zu spielen. Der Song war schon immer ironisch gemeint, aber im Moment würde es wohl doch ziemlich unsensibel klingen.“

OUT OF TIME beginnt mit den Worten „The world is collapsing around our ears …“ und ist doch keine „politische“ Platte. Von den Problemen, die auf LIFE’S RICH PAGEANT. DOCUMENT oder GREEN zur Sprache kamen, ist hier wenig zu finden. Es scheint, als ob Michael Stipe, als Sänger und Texter das Sprachrohr der Band (obwohl ihm diese Rolle eigentlich gar nicht zusagt), Musik und politisches Engagement bewußt getrennt hat.

Über einem Bier in der Globe Bar denkt Stipe laut über diese Frage nach: „Man muß schon sehr talentiert sein, um politische Songs wirklich überzeugend zu bringen, deshalb habe ich mich diesmal für Liebeslieder entschieden. Die politischen Anliegen überlasse ich Billy Bragg und Natalie Merchant, die können das viel besser. Und Slogans … naja, zur Zeit herrscht ja eine Inflation an plakativen Songs. “ „All we are saying is Give Peace A Chance“…

„Genau, aber ich will mich nicht darüber lustig machen, auch wenn es mit der Betroffenheit mancher Leute nicht weit her ist. Letzlich kommt es ja nur darauf an, daß diese Themen an die Öffentlichkeit gelangen, selbst wenn sie auf dem Weg dahin ein bißchen an Substanz verlieren. Außerdem muß man sie vereinfachen, damit sie bei Otto Nornalverbraucher überhaupt ankommen. Manche meiner Songs, die mir ungeheuer politisch vorkamen — ,Disturbance At The Heron House‘ zum Beispiel oder .Green Grau‘ The Rushes‘ — hat niemand verstanden. Ich ritt immer wieder auf den gleichen Aussagen herum …“ (die US-Intervention in Mittelamerika war ein wichtiges Thema, Umweltschutz ein weiteres) „… aber keiner kapierte, worum es ging. Aus lauter Verzweiflung fing ich an, unsere Pressetexte selbst zu schreiben, damit wenigstens einer mal sagte: ,In diesem Songgeht esum Guatemala‘.“ Forthin aber wurde Stipe alle naselang dazu aufgefordert, „Kommentare zu jedem nur denkbaren umweltpolitischen Problem abzugeben. Dabei bin ich kein Experte, was Giftmüll oder radioaktiven Fallout betrifft.

Ich war überrascht, wie scharf die Leute darauf sind, daß jemand wie ich über Sachen redet, die jeden angehen. Ich bin kein .Aktivist‘, nur ein ganz normaler Mensch, der sich seine Gedanken macht und die dann in Songs nicht besonders klar ausdrücken kann. (Lacht). Vielleicht will ich das auch gar nicht. Man kann nicht ständig Protestsongs schreiben … in Interviews darüber zu sprechen ist einfacher. Wir unterstützen Greenpeace und andere Organisationen — über das Büro, durch Stände bei den Konzerten und so weiter. Peter Garrett von Midnight OH hat Jefferson und mir klargemacht, was sich mit einem Büro wie umerem alles machen läßt, daß es als eine Art Informationsbörse dienen kann. Und dann sind da noch die Filmproduktionen …“

Stipes Firma C-Hundred Film Corp hat unter anderem R.E.M.’s“.Tourfilm“ und einige Kunstfilme von Jim Herbert (Stipes Professor an der Athens University und Regisseur der Videos zu „Reckoning“ und „End Of The World“) produziert. Mittlerweile arbeitet man an einer dritten Serie von .,PSAs“, kurzen Fernseh-Clips zu aktuellen Themen. Bisher wurden behandelt: „Denkmalsschutz, AIDS, Abtreibung, Wohnungslosigkeit… Dann gibt es eins, das heißt ,Right To Know‘ da haben wir Telefonnummern von Regierungsstellen veröffentlicht, bei denen man anrufen und sich nach der Wasserqualität im Umkreis erkundigen kann. Was noch Mal sehen … Wellfrieden, Wahlrecht, Wirtschaftsverbrechen, Hilfe alleinerziehende Mütter, Bäume… Ja. der ist besonders schön. Richtig bewegend, am Ende brichst du in Tränen aus. “ Stipe lacht. Er ist erstaunlich zugänglich, ganz im Gegensatz zu dem Image des nuschelnden, abgehobenen Eigenbrötlers, das ihm die Pop-Journaille angeheftet hat. Sanfter und introvertierter als seine Band-Kollegen ist er allerdings schon — nicht ohne Grund reist man auf Tour seit einiger Zeit in getrennten Bussen, „einem lauten und einem ruhigen“. Im lauten Bus zelebrieren Bück. Berry und Mills des nachts echte Rock-’n‘-Roll-Gelage, unterstützt von plärrenden Ghettoblastern und Strömen von Alkohol. (Obwohl ich nicht ganz überzeugt bin, daß dieser Lebensstil ihnen tatsächlich liegt. Für Hardcore-Rocker sind sie ganz einfach zu intelligent. Im Privatleben trägt die gesamte Band Brille — ein untrügliches Zeichen.) Im ruhigen Bus sitzt Stipe mit seinen Notizbüchern und hört über Kopfhörer die ruhige, religiöse Musik des estnischen Komponisten Arvo Part. Keine schlechte Idee, aber nicht unbedingt das, was die Rock-Etikette vorschreibt.

„Man muß nicht besonders abgedreht sein, um als exzentrisch abgestempelt zu werden. Ich glaube, viele Journalisten kommen schon mit einer vorgefaßten Meinung und versuchen, meine Aussagen so hinzubiegen, daß es paßt. Ich kann das verstehen. Medien-Persönlichkeiten fördern Vorurteile heraus. Aber ich hoffe, daß dahinter wenigstens ab und zu der echte Michael Stipe zum Vorschein kommt. Selbst an meinen ganz schlechten Tagen habe ich doch, glaube ich, einen gewissen … äh … Charme. “ Seine Stimme verliert sich, und er schaut zu Boden.

Mit Ausnahme von Bill Berry, der sich hin und wieder das Recht herausnimmt, faul zu sein, fallen alle Mitglieder von R.E.M. in die Kategorie „Workaholic“. Wenn gerade keine Tour ansteht, mit der man sich die Zeit vertreiben könnte, arbeitet jeder an mindestens zwei Dutzend Projekten gleichzeitig. Mike Mills, der einzige bei R.E.M., der über Notenkenntnisse verfugt, hat gerade den Soundtrack für einen Film namens „Men Will Be Boys“ fertiggestellt, singt auf der neuen Platte von Robbie Robertson, übt verbissen Keyboards und produziert die Band seines Bruders, Three Walls Down. Peter Bück arbeitet mit einem Heer amerikanischer Indie-Bands. darunter die Feelies, Run Westy Run und Charlie Pickett sowie diverse Mitglieder der Georgia Satellites und der Swimming Pool Q’s, spielt im Duo mit Kevn Kinney (Sänger von Drivin’n’Cryin‘) und gibt Konzerte mit Kinney und Nils Lofgren.

Außerdem bilden Bück, Berry und Mills drei Viertel der Hindu Love Gods und haben mit dem Vierten im Bunde. Warren Zevon, gerade ein Album mit alten Blues-Songs herausgebracht. „Wir stehen drauf, sagt Bück. „aber wir hatten es nicht als große Geschichte geplant. Es war ganz einfach eine Nachnüttags-Session. Ein paar weiße Jungs spielen den Blues, in völliger Ermangelung jeglichen Geschmacks. (Lacht) Komisch, daß das so hochgejubelt wird. “ Und womit beschäftigt sich Michael Stipe? Im Moment investiert er seine Zeit zu gleichen Teilen in die C-Hundred Film Corp und in Studioarbeit. Als Produzent hält er dem lokalen Nachwuchs die Treue. Zu seinen Schützlingen gehören zum Beispiel Vic Chesnutt. der wie eine Dada-Version von Neil Young klingt und den sehr viel interessanteren Chickasaw Mudd Puppies, die irgendwo zwischen Howlin‘ Wolf, T. Rex und Hillbilly-Musik liegen.

„Die Mudd Puppies, das ist echte Volkskunst. Wenn sie nicht gerade Musiker wären, würde man sie wohl ab Dorftrottel abtun, aber sie sind typisch fiir die Bodensta’ndigkeit in diesem Teil Amerikas. In Georgia gibt es viele Leute, die Talent haben und unabhängig sein wollen. Das interessiert mich, und ich möchte sie dokumentieren. „