Radiohead – Amsterdam, Heineken Music Hall


Öfter mal was Neues: ein bisschen geschmäcklerisches Gemoser über die großartige Band Radiohead.

Der junge Mann mit dem Wallehaar lässt sich auf die Knie sinken und verneigt sich dreimal tief in Richtung der Pilgerstätte, aus der er gerade mit entrücktem Taumeln herausgetreten ist. Dann lässt er sich von seinen Kumpels hochzerren, in einen herbeigerollten Einkaufswagen verladen und unter kollektivem luchhe! abtransportieren. Was ist passiert?

Nun, man darf davon ausgehen, dass Rauchdrogen verkonsumiert worden sind. Vor allem aber haben drin im hoch aufragenden Würfel der Heineken Music Hall vor zwanzig Minuten Radiohead das letzte Konzert der Tournee durch die USA und Europa beendet, die die Oxforder diesen Sommer einigermaßen spontan und überraschend aus dem Ärmel schüttelten. Eine Tour zur Labsal der ihnen in kultisch-religiöser und rockmusikologisch-akademischer Verehrung ergebenen Fans; von denen haben Radiohead ergebenere als die meisten anderen Bands, und sie haben nun schon wieder gute zweieinhalb Jahre darben müssen, seit die letzten Akkorde der „hail to the thief“-Konzerte verklungen sind.

Und eine Tour zum Zweck der Gruppentherapie und zur Linderung des Kreativitätsleidensdrucks, der die Band obligatorischerweise einmal mehr befallen hat, seit sie nach längerer Pause – die vorrangig „zum Kinderkriegen “ (Thom Yorke) genutzt worden ist – wieder an neuen Songs arbeiten. Neuen und alten Songs, genauer, denn unter dem guten Dutzend unveröffentlichter Stücke, diedieBand 2006 in der stets variierenden Setlist führte, um sie live auszutesten, weiterzuentwickeln, abzuklopfen und später mitunter wohl auf die lange Bank zu schieben, ist zum Beispiel auch „Nude“. Der mollern-sakrale Spuk-Schlaflied-Heuler lässt an einen Outtake von Jeff Buckleys grace denken, und er ist in der Tat fast so alt wie dieses Album; der Song (a.k.a. „Big Ideas (Don’t Get Any)“) war dereinst schon ein Kanditat für OK COMPUTER (1997) und geistert seit Mitte der 90er in verschiedenen Inkarnationen im Radiohead-Live-Repertoire herum. Sein neuerliches Auftauchen in den Setlists werten die Auguren der Fanseiten, die mit nachrichtendienstlicher Akribie jede Bewegung der Band dokumentieren (allen voran sicherateaseweb.com, die ein offenbar minütlich upgedatetes Radiohead-Kompendium anbieten sowie mit Billigung der Band – eine erstaunliche Palette von Bootleg-Downloads ganzer Konzerte, darunterfast jede einzelne der2oo6er-Shows) … werten die Auguren also als Hinweis darauf, dass er nach all den Jahren Eingang auf Radioheads allseits für 2007 erwartetes siebtes Studioalbum finden wird. Während Thom Yorke – der parallel zur Tour mit ein paar wenigen Interviews sein erstes Soloalbum the eraser bewarb – bei jeder Gelegenheit offen lässt, ob es dieses siebte Album als solches überhaupt geben wird. Oder nicht vielleicht eine E.P.-Reihe. Oder ein Download-Paket. Oder irgendwas anderes Modernes. Man wird sehen.

Ein Radiohead-Konzert ist nicht einfach ein Gig einer beliebten Rockband; hier ist ein guter Schuss Heiligenverehrung mit im Spiel. Die mythologisierende Überhöhung der fünf als „wichtigste“ Band ihrer Generation, als Wegweiser einer anspruchsvollen, rastlos forschenden Rockmusik; ihr allen weltweiten Platin-Erfolgen trotzender Nimbus des sich nicht jedermann erschließenden Eingeweihten-Dings; ihr sich aus alldem ableitender Halbgötter-Status und die Tatsache, dass ihre Musik diesen seit über einem Jahrzehnt rechtfertigt – sie alle sind natürlicherweise keine Garantie dafür, dass nicht auch Radiohead mal einen schwächeren Abend erwischen können. Heute – und das bedauert niemand mehr als der Reporter – ist dies der Fall.

Vielleicht liegt es daran, dass drei Monate Tour mit 40 Konzerten hinter den fünfen liegen; dann ist da der psychologische Malus der noch frischen, bedrückenden Erinnerungen, mit denen dieser Bau etwas außerhalb des Amsterdamer Zentrums verbunden ist: In der Nacht des ersten von zwei hier angesetzten Konzerten Anfang Mai starb zu Hause in England die Mutter von Drummer Phil Selway an einem Schlaganfall; der heutige Gig ist der Nachholtermin für das damals abgesagte zweite Konzert. Jedenfalls wirken Radiohead heute irgendwie indisponiert. Der Eindruck ergibt sich zumeist nur aus Nuancen, aber die machen es bei einem so filigranen Oeuvre eben aus – wir sind ja nicht bei AC/DC (for the record: nichts, aber auch nichts gegen AC/DC).

Ein bisschen Gemoser also. Das sonst dramatisch bebende „Exit Music“ singt Yorke so schlaff und nachdruckslos, als sei es ihm im Grunde piepegal, ob der im Lied beschworene strafende Vaterdas verzweifelte Liebespaar nun ertappt oder nicht; erlösend, als Colin Greenwoods mächtiger Basslauf hereinbricht. Nicht nur beim (ansonsten wieder grandiosen) „Like Spinning Plates“ zeigt sich, dass Yorkes Stimmumfang angeschlagen ist. „Street Spirit“, eine der großen Hymnen der 90er, bekommt heute eine starsailoresk heulbokonzertige Note, ebenso wie „Fake Plastic Trees“ und „Everything In Its Right Place“. „There There“, eines der machtvoll adrenalinpumpenden Flaggschiffe der letzten Tour, bollert kraftlos; man hat den Eindruck, die Band kommt ihrem eigenen Song nicht hinterher. Der komplex geschachtelte Ratter-Groove von „Myxomatosis“ trümmert aus dem Ruder, und so ein hölzern zusammengehauener erster Teil von „Paranoid Android“ ist dem Rezensenten noch gar nie untergekommen (Yorke „verjazzt“ zudem eigenartig die Gesangsmelodie, und das kan n er sich gerne gleich wieder abschminken); die zwei letzten Drittel freilich sind gewohnt famos.

So treibt man vor der flackernden Bühnendeko – auf zehn Leinwänden loopen verhackstückte Live-Bilder der Musiker arty vor sich hin. was dem Bühnenhintergrund den Look eines 6os-azzplatten-Covers mit harrypotteresk animierten Fotos gibt- in einem Wechselbad der Gefühle. Aus dem einen auch die zahlreich eingestreuten neuen Stücke nicht ganz herauszufischen vermögen. „Es wäre falsch zu glauben, dass die neuen Songs, die wir live spielen, auch nur im Entferntesten fertig sind“, sagte Thom Yorke letzten Monat im ME. „Sie zeigen nur, wie wir im Augenblick sind. Da gibt es noch viel zu tun. Es ist nicht sehr repräsentativfiir das, was noch kommen wird.“ In der Tat würde man dem bemüht „komplex“ scheppernden Perkussion-Exzess „15 Steps“, dem schalen quasi-Coldplay-Dings „Arpeggi“ und dem etwas eindimensional tackernden „Bangers N Mash“ noch ein paar zündende Ideen sowie dem belämmerten Surf-Instrumental (!) „Spooks“ die stillschweigende Entsorgung wünschen. Während andererseits das erwähnte „Nude“, „Bodysnatchers“ mit seinem dringlichen Stakkato und das noch skizzenhafte, aber beeindruckende „All I Need“ mit seinem prägnanten Piano-Riff und zauberigem Glockenspiel versichern (falls es dieser Versicherung bedarf): Sorgen muss man sich um Radiohead nicht machen.

In der U-Bahn in die Stadt unterhalten wir uns mit Rein und Arlo, die gerade auf ihrem ersten Radiohead-Konzert waren. Sie sind komplett weg vom Fenster vor Begeisterung, und das ist auch gut so. Aber vielleicht sollten sie beim nächsten Mal Herztropfen mitnehmen. So glimpflich kommt man adrenalinmäßig bei Radiohead nämlich normalerweise nicht davon.