Reading Power-Rock aus der Schlammwüste


Das Reading-Festival lief Ende August bereits zum 17. Mal ab. Die Inhaber des Londoner Marquee-Clubs, die als Organisatoren auftreten, nutzen die langjährigen Erfahrungen. Der ziemlich perfekte Ablauf dieser riesigen Veranstaltung ist beeindruckend. Gespielt wird auf zwei Bühnen, und die 20000 bis 25000 Zuhörer mußten in der Regel nur eine halbe Stunde Pause zwischen den einzelnen Auftritten hinnehmen. Nach Einbruch der Dunkelheit wurde das Geschehen auf der Bühne per Kamera auf eine große Leinwand übertragen, so daß auch Leute, die weitab von der Bühne saßen, nicht auf optische Eindrücke verzichten mußten. Darüberhinaus stößt man in Reading überall auf eine Menge von Details, die bezeugen, daß die richtigen Leute durchaus ein Mammut-Festival auf die Beine stellen können, bei dem nicht nur die eigene Brieftasche, sondern auch das Interesse des Publikums im Vordergrund steht. Allein das Wetter spielte in diesem Jahr nicht mit: Schwere Regenfälle verwandelten das Gelände noch vor Beginn des ersten Veranstaltungstages in eine Schlammwüste, Schauer und eine kühle Witterung während des Festivals heizten kaum die Stimmung, sondern höchstens den Alkoholkonsum an.

Zum Aufgebot der Gruppen gehörten unter anderem noch Golden Earring und die Doobie Brothers, die Little River Band und Hawkwind, Frankie Miller und Thin Lizzy, Kingfish und die Alex Harvey Band. Es gab ein paar Luschen im Programm — U-Boat zum Beispiel und leider auch Kingfish aus Kalifornien; vorherrschend war jedoch eine beachtliche musikalische Qualität, egal, aus welchem Lager die Bands auch stammten.

Aerosmith zum Beispiel, auf Platten und in manchen Konzerten nicht gerade überwältigend, sendeten eine gehörige Portion Power aus, obwohl wieder einmal klar wurde, daß ihr Schwermetall-Rock ohne Sänger Steven Tyler nie das breite Publikum erreicht hätte. Tyler mag ja von seinem Vorbild Mick Jagger verdammt viel abgekupfert haben; gleichwohl muß man ihm zugestehen, daß er sich auf der Bühne schafft, alles gibt und mit seiner Gestik und seiner sinnlichen Ausstrahlung ohne Zweifel den Leuten eineinhalb heiße Rockstunden beschert.

Überraschend gut spielte auch der Brite John Miles mit seiner Band. Während er sonst eine schlimme Vorliebe für seichte Soul-Balladen hat, ließ er diesmal sozusagen die Sau raus und brachte viel fetzenden Rock.

Pluspunkte sammelten auch die New Wave-Bands, die ja mit einem Bein noch immer in der britischen Clubszene stehen und noch keine Erfahrungen mit der Szenerie eines riesigen Festivals haben. Ultravox etwa waren zwar sichtlich nervös, spulten aber dennoch ein überzeugendes, sehr avantgardistisches Programm ab. Eddie & The Hot Rods, als Topgruppe des ersten Tages gebucht, brauchten drei Stücke zum Aufwärmen und knallten dann mit dem gewohnten Maß an frischer, mitreißender Energie ihre gängigen Songs durch die Boxen. Und selbst die Zuhörer, die kurz zuvor noch Uriah Heep umjubelt hatten, zeigten spätestens bei „Do Anything You Wanna Do“ Sympathien für den Punk.

Den Sensationsauftritt des Festivals indes lieferten am zweiten Tag Graham Parker & The Rumour. Verstärkt durch vier Bläser, rockten sie alle anderen Bands an die Wand. Das Zusammenspiel der Band war unglaublich gut, jeder Song riß mit und Graham Parker sang souveräner und mit mehr Intensität als je zuvor. Die Gruppe brachte die herausragenden Titel ihrer zwei ersten Alben — „Soul Shoes“, „Back To Schooldays“, „Heat Treatment“, „Fool’s Gold“, „Don’t Ask Me No Questions“ neben anderen —und stellte außerdem ihre demnächst erscheinende dritte LP fast komplett vor. Und dieses Album wird es in sich haben, denn die Songs waren ohne Ausnahme brillant, energiegeladen, großartig arrangiert. Als am Ende des Auftritts das PA ausfiel, improvisierte Parker über das letzte noch intakte Mikrophon: „Turn The Power On“. Der Drummer stieg ein, die Bläser pusteten sich die Lungen aus dem Leib, um ohne Verstärkung gehört zu werden, und 20000 Leute stiegen auf den Song ein und sangen mit dem Mann auf der Bühne, nach dem uralten Call & Response-Schema des Blues. Klar, daß da der Saft schnell wiederkam.