Review: ABBA und „Voyage“ – ein würdevolles Schlusskapitel
ABBA mia, here we go again: Würdevolles Comeback zwischen Kommerzkitsch und Perfekt-Pop – wo sonst
Die häufigste Erstreaktion auf das neue ABBA-Material war wohl: „Klingt wie damals“. Maximales Lob, versteckt in einer lapidaren, teils auch abschätzig gemeinten Bemerkung. ABBA steht heute auch für Alles bleibt beim Alten. Sehen wir uns vergleichbare Bands und somit die größten der Geschichte an: In niemandes Liste der 100 beliebtesten Beatles-Songs steht „Free As A Bird“, der erste neue Song der Fab Dreieinhalb nach 25 Jahren. Und ginge der Rest von Queen heute ins Studio, würden sie auch kein zweites „We Are The Champions“ zustande bringen. Klar: Der Vergleich ist eher schief als eben. In beiden Fällen fehlt ein mindestens sehr zentrales Mitglied. ABBA sind noch/wieder komplett. Allerdings sind hier auch unvergleichliche 39 Jahre seit dem letzten Album vergangen.
Der Gewalt dieser Dimensionen wird der erste Song auf VOYAGE gerecht. „I Still Have Faith In You“ wartet gleichzeitig mit dem emotionalsten und mutigsten Moment der Platte auf, wenn der himmelfahrende Refrain einsetzt. ABBA unterstreichen ihre Zeitlosigkeit hier gleich doppelt: In unserer Streaming-Ära, in der uns die ersten 30 Sekunden eines Popsongs wie ein Filmtrailer mit den packendsten Szenen vom Weiterklicken abhalten müssen, gönnen sich ABBA mehr als zwei Minuten bis zum Chorus. Dass der Song nur bedingt mit dem Hier & Jetzt zu tun hat, zeigt auch seine Genesis: Benny Andersson hatte tragende Teile der Melodie bereits vor sechs Jahren als Instrumental „Kyssen“ im Soundtrack zum schwedischen Fantasyflop „Cirklen“ verwendet.
Doch VOYAGE ist keine Resterampe im Stil von MADE IN HEAVEN: Der Recyclingreigen endet bereits mit der aktuellen Single „Just A Notion“. Der von Björn Ulvaeus als „lachhaft fröhlich“ beschriebene Song war in Demoform aus dem September 1978 bereits auf dem 1994er-Boxset „Thank You For The Music“ im „ABBA Undeleted“-Medley zu hören. Die neue Ballade „Bumblebee“ hat indes und gottlob nichts mit dem dort ebenfalls zwischen 13 weiteren Songskizzen gepferchten, etwas albernen „Free As A Bumble Bee“ zu tun. ABBA, das wollen wir bei aller Wiederhörensfreude nicht vergessen, waren fürwahr nie frei von solchem Kinderquatsch – erinnern wir uns nur an den „King Kong Song“ (Arbeitstitel: „Mr. Sex“!) oder „Dum Dum Diddle“. Wobei: Daran erinnern wir uns ja nicht. Das waren Albumtracks und wer kennt schon ganze Studioalben der Band? Es sind die Best-ofs, die Teil unserer kollektiven DNA geworden sind, wie ABBA GOLD, das sich aktuell in seiner sensationellen 1.017. Chartswoche im UK befindet.
Die Londoner Liveband hat James Righton von den Klaxons zusammengestellt
Deren Tracklist würden zumindest die neuen ABBA-Singles harmonisch ergänzen. Aber, ABBA, natürlich gibt es auf VOYAGE auch die üblichen Grenzüberschreitungen zum Kitsch: allen voran, erstaunlicherweise nicht als Bonusstück, sondern prominent an dritter Stelle platziert, der Weihnachtssong „Little Things“, selbstredend mit Kinderchor. Mit dem schottisch daherdudelnden „When You Danced With Me“ empfehlen sich die ESC-Gewinner von 1974 erneut als quintessenzielle europäische Band – kontaktfreudig gesellt sich das Stück zum gleichermaßen von deutschem Schlager und spanischer Volksmusik inspirierten „Fernando“. „No Doubt About It“ zeigt dann kurz vorm andächtigen Finale „Ode To Freedom“, dass in den Bandmitgliedern zwischen 71 und 76 Jahren immer noch Dancing Queens und Kings stecken. Auch wenn sie das Tanzen auf der Bühne lieber ihren ABBAtaren überlassen. Deren Strippenzieher*innen (es sind an die 500) sei geraten, den Song als Warm-up für „Does Your Mother Know“ im Programm zu installieren. Was in der „ABBA Arena“ nur auf „Keep An Eye On Dan“ folgen kann, deutet der Song am Ende mit einem kurzen Schlenker Richtung „S.O.S.“ an. Die Londoner Liveband hat übrigens James Righton von den Klaxons zusammengestellt und dafür auch Little Boots an den Keyboards gewonnen. Ein weiterer Beleg für den immensen Crossover-Appeal dieser Band, auch wenn der natürlich nicht von Nöten war. Anders als dieses Album.
Wie uns die Musical-Erfolge, die blockbustenden Filme, sowie die Playlists der Oldiesender dieser Welt zwar permanent vor Ohren und Augen führen: Das endlose Leben von ABBA jenseits ihrer Geschichte ist längst gesichert. „We have a story/ And it survived.“ Der Bandname beginnt und endet mit dem Anfangsbuchstaben des Alphabets. ABBA gehen immer wieder von vorne los. Doch der Verdienst des Multimedia-Projekts „Voyage“ ist es, dieser Geschichte statt des stillen Fade-outs der Band 1982 nun ein würdevolles Schlusskapitel verfasst zu haben. Kein Appendix, keine B-Seite, kein Bonusmaterial, keine Anthologie. They still have it in them. They do, they do, they do, they do, they do.