Backkatalog

ART BRUT

TOP OF THE POPS

The End/Soulfood

Diese Werkschau der Britpop-Intellektuellen enthüllt: Eddie Argos hat keine Ahnung von Kunst.

Man hatte es ja vermutet. Aber es brauchte schon diese Werkschau seiner Band Art Brut, um zu enthüllen: Eddie Argos hat gar keine Ahnung von Kunst. Auf der zweiten CD von TOP OF THE POPS, auf der seltene Aufnahmen, B-Seiten und Demo-Takes versammelt sind, gesteht der Oscar Wilde des Britpop in einer Live-Version, dass er, bevor er seine Band nach einer Kunstrichtung benannte und den Indie-Hit „Modern Art“ schrieb, gerade mal zwei Galerien von innen gesehen hatte. Mittlerweile malt Argos erfolgreich, wohnt in Berlin und seine Band feiert ihre zehnjährige Existenz mit dieser Zusammenstellung: Auf CD Nummer eins lässt sich sehr schön nachvollziehen, dass Art Brut ihren hingerotzten Rumpelrock zwar nie wirklich weiterentwickelt haben, aber so auch seinen Charme erhalten konnten. Indem vier Alben auf 17 Songs verdichtet werden, fällt sogar noch deutlicher auf, wie besessen sich Argos mit der Popkultur und deren Auswirkungen auf sein Berufs-und Liebesleben beschäftigt. Das wird wohl auch so bleiben, denn musikalisch und inhaltlich fügen sich auch die beiden neuen Songs ins Bild. Der eine heißt „We Make Pop Music“. Und dazu braucht man auch keine große Ahnung von Kunst.

****1/2 Thomas Winkler

DAVID BOWIE

ZEIT! 77-79

EMI

Pop: Die Berlin-Trilogie plus der Konzertmitschnitt STAGE in einem Box-Set.

Wie kein zweiter Künstler im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts verstand es David Bowie, Zeitgeist, Mode, Trends, Subkultur, Provokation, Tabubruch und Postmoderne für sich zu instrumentalisieren. Die sogenannte Berlin-Trilogie, LOW, HEROES und LODGER, inspiriert von Bowies zeitweiligem Lebensmittelpunkt in der damaligen Mauerstadt, steht als Paradebeispiel für seine Wandlungsfähigkeit, Kreativität und seinen Eklektizismus. Im Pappschuber der ZEIT! 77-79 genannten Box steckt das Albentriumvirat plus der Konzertmitschnitt STAGE von 1978: LOW ******, co-produziert von Bowie und Tony Visconti unter Beraterfunktion von Brian Eno im französischen Château d’Hérouville und abgemischt in den Berliner Hansa Studios, war im Januar 1977 ein radikaler Neustart. Elektronikverspielt klingen die elf Songs -wie das Echo von Bowies damaligen Albenfavoriten der deutschen Elektronkpioniere NEU!, Kraftwerk, Klaus Schulze und Tangerine Dream. Sieben bewusst auf Skizze gehaltene Songs mit knappen Vokalsätzen und surrealen Texten, darunter der Radiohit „Sound And Vision“, werden von vier elegischen Klangskulpturen ergänzt. Bowies damaliges Label RCA bewarb das Album (Gäste: Iggy Pop und Mary Hopkin) mit dem Slogan „There’s old wave, there’s new wave and there’s David Bowie“. In der Konzeption nahezu identisch, aber monströser im Klangbild, präsentierte sich neun Monate später das mit nahezu gleichem Team in den Hansa Studios eingespielte HEROES *****. Gitarrist Robert Fripp veredelt den in Deutsch und Englisch gesungenen Titelsong, der sich erst zum Kulthit der Berliner Heroinszene, dann zu Bowies Hymne schlechthin entwickelte. Nicht ganz auf gleicher Augenhöhe mit den beiden Vorgängern zeigte sich 1979 das in Montreux und New York entstandene LODGER ****. Als Begleiter fungierte jene handverlesene Mannschaft (u.a. Gitarrist Adrian Belew), die Bowie auch auf der vorangegangenen Welttournee zur Seite stand. Durchwachsen klingt STAGE ***, das nicht ein komplettes Konzert auf zwei CDs bietet, sondern seltsam zerstückelt Auszüge von vier Auftritten in drei amerikanischen Städten.

Mike Köhler

SLIM CESSNA’S AUTO CLUB

AN INTRODUCTION FOR YOUNG AND OLD EUROPE

Glitterhouse/Indigo

Nennen Sie es Alternative Country. Oder Southern Voodoo Twang. Oder Gothic Americana. Oder Psychedelic-Gospel-Punk. Doch vor allem: Fürchten Sie sich nicht.

„This is the band“, hat Jello Biafra (Dead Kennedys) mal gesagt, „that plays the bar at the end of the world.“ Und in der Tat: Unter all den Besessenen, den religiösen Eiferern, den wahnsinnigen Straßenpredigern, die Colorado bevölkern, sind Slim Cessna, Munly Munly und ihre Spießgesellen vermutlich die besessensten, eiferndsten, wahnsinnigsten. Sieben Studioalben und eine Live-Platte hat Slim Cessna’s Auto Club seit 1995 veröffentlicht, und alle fanden sie nur in Spezialistenzirkeln Gehör. Das sollte, nein, das muss sich mit AN INTRODUCTION FOR YOUNG AND OLD EUROPE ändern, einer 15-Song-Kompilation, die alle Stärken dieser komplett durchgeknallten Bande ausstellt: Den unfassbaren Drive. Das hemmungslose Sentiment. Den allgegenwärtigen Wahnsinn. Den furiosen Eklektizismus. Vor allem aber die Gabe, einen großartigen Song nach dem anderen aus dem Ärmel zu schütteln. Songs, denen zwischen Alternative Country und psychedelischem Gospel-Punk, zwischen Gothic Americana, Southern Voodoo Twang und New Wave informiertem Noise Rock wenig fremd und nichts heilig ist. Wer Referenzpunkte braucht: Wovenhand im Himmel, Violent Femmes im Fegefeuer oder Nick Cave in einer Hütte in den Appalachen. Als Zugabe gibt ’s eine DVD mit dem Besten aus drei Gigs vom April 2012 im Lion’s Lair in Denver, Colorado.

***** Peter Felkel

DIVERSE

ARTS & CRAFTS: 2003-2013

Arts & Craft/Rough Trade

Hübsche Geburtstags-Werkschau des kanadischen Indie-Labels.

Zwei sehr unterschiedliche Künstler sind es, die man mit Arts & Crafts vornehmlich in Verbindung bringt. Einmal die gerne als Kollektiv bezeichneten Broken Social Scene – deren Kevin Drew das Label vor zehn Jahren nicht zuletzt deshalb gründete, um seiner eigenen Band eine Heimstätte zu bieten – und zum anderen Leslie Feist, früher ebenfalls Mitglied bei Broken Social Scene und heute eine der erfolgreichsten Solokünstlerinnen Nordamerikas und längst Majoract. Vorliegende CD erzählt nicht nur in ausführlichen Liner Notes die Geschichte des kanadischen Labels, sondern ruft anhand über 30 Songs noch einmal in Erinnerung, dass da mehr war bzw. ist. Etwa die Stills, die sich mit den Jahren vom Interpol-Dunkel-Outfit zu einer respektablen College-Rock-Band im Sinne der frühen R. E. M. mauserten und mit „Being Here“ vertreten sind, einem Song ihres finalen Albums OCEANS WILL RISE. Oder Los Campesinos!, die man nicht unbedingt mit Kanada assoziiert, die aber zumindest dort offenbar Teil des Labelkatalogs waren und ihr wunderbares „You! Me! Dancing!“. Oder die Amerikaner Ra Ra Riot, und der traditionalistische Rock von Jason Collett. Bekannte Stücken und seltenes Material – soweit es das im Zeitalter von YouTube überhaupt noch gibt – halten sich die Waage. Gegenwärtigkeit wird ebenfalls bewiesen, zumindest irgendwie: „Are You Gonna Waste My Time?“ von Zeus, Backingband des erwähnten Jason Collett, wurde zwar 2012 aufgenommen, klingt aber brutal nach 1971.

**** Jochen Overbeck

DIVERSE

THE SUN COUNTRY BOX

Bear Family Records

Diese prachtvolle Sechs-CD-Box rollt den Hillbilly-Katalog von Sam Phillips‘ Label von hinten auf und reicht dabei weit über Countrymusik hinaus.

Wer wird bei Sun gleich an Countrymusik denken wollen? An Johnny Cash gerne, an die Erfindung des Boom-Chicka-Boom, das Steel-Gitarre und Fiedel im Country plötzlich alt aussehen ließ. Und natürlich an die Songs, die Elvis am 5. Juli 1954 in Sam Phillips‘ Studio in Memphis einspielte, die den Ruhm des Labels begründeten und den Sound des Rock’n’Roll definierten, jenen rohen Eiertanz auf R’n’B und weißer Hillbillymusik, der bald die Welt eroberte. Phillips sollte in den kommenden Jahren eine Reihe weiterer Südstaatentalente aufnehmen, die ihm bald von den Großkonzernen abgeluchst wurden: Carl Perkins, Jerry Lee Lewis, Roy Orbison. Bis ihm in den Sechzigern der Zug der Zeit davonfuhr und er Sun Records verkaufte. Über die Fünfziger hinweg hat Phillips Dutzende von Country-Künstlern aufgenommen, die weniger das Prädikat „Genre-definierend“ verdienten, als vielmehr beachtliche Idiosynkrasien in den Grenzgebieten zu Blues, Rockabilly und Rock ’n’Roll hervorbrachten. Die 208 Songs der Box erzählen auch die Geschichte dieser Fusionen, der Hillbilly-Sound von Sun ist nicht gerade Nashville-linientreu. Wir hören Malcolm Yelvingtons betrunkenen Swing aus dem Geburtsjahr des Rock’n’Roll, ein paar Fundstücke aus Charlie Feathers Holterdipolter-Country-Schatzkiste, die auf der Vinylversion der Box von 1986 noch fehlten, das Jodeln Joe Manuels, den Westernminimalismus Ernie Chaffins („Feelin‘ Low“, „I’m Lonesome“) und den voll im Echo stehenden Doo Wop mit Fiddle der Rhythm Rockers von 1956. Da ist dieser Hall-Effekt zu hören, den Phillips mit zwei Tonbändern erzeugte, die Technik, die Elvis den Sex in die Stimme trieb. Lewis und Perkins sind nur am Rande vertreten, Cash mit sieben Aufnahmen, mehr musste nicht sein, den Meilenstein-Künstlern hat Bear Family eigene Boxen gewidmet. Was vom Memphis-Country sonst noch zu berichten ist, verrät das knapp 150-Seiten-Prachtbooklet in 1A-Bear-Family-Qualität mit Biografien, Liner Notes und Fotos, die man sich direkt an die Wand pinnen möchte.

***** Frank Sawatzki

LONDON POSSE

GANGSTER CHRONICLE: THE DEFINITVE COLLECTION

Tru Thoughts/Groove Attack

Der beinahe vergessene britische Hip-Hop-Meilenstein aus dem Jahr 1990 in einer Deluxe-Ausgabe mit Remixes.

In einem ironischen Winkelzug hatte das Schicksal beschlossen, die Gründung der London Posse ausgerechnet auf amerikanischen Boden zu verlegen (auf einer Tour mit Big Audio Dynamite). Während das Gros der britischen Rapper Anfang der 1990er sich im Klonen von US-Hip-Hop-Sounds und -Styles oder Hardcore-Erkundungen übte, probten die beiden MCs Rodney P und Bionic beinahe einen Alleingang. Ihr GANGSTER CHRONICLE, so der Originaltitel, war eine Verneigung vor ihren karibischen Roots und eine machtvolle Zurschaustellung ihrer britischen Identität („I ain’t a US replica, I don’t emulate“). Der „Original London Style“ (Track-Titel) brachte aber auch eine kritische Bestandsaufnahme der verheerenden Schäden der Thatcher-Regentschaft mit sich. In ihrem bekanntesten Track „Money Mad“(in verschiedenen Remixes hier vertreten) ziehen Rodney P und Bionic chattend Bilanz über eine geldfixierte Gesellschaft, flankiert von Sirenen, Bleeps und Ragga-Samples. Das Titelstück erinnert an einen Bond-Soundtrack, dem man ein paar rollende Beats und mehrere, sich kreuzende Bläsersätze untergeschoben hat. „Original London Style“ bleibt bis heute eines der großartigsten HipHop-Stücke überhaupt – auf Beats und Gitarren schiffschaukelnd, von einer perlenden Pianomelodie und einem Chorsatz in die Sphären getragen und mit einem Jazz-Trompeten-Intermezzo wieder auf den Boden geholt. In diesen drei Minuten wurde dem HipHop ein Versprechen auf Zukunft geschenkt, das erst in den letzten Jahren mit Aufnahmen von Labels wie Anticon eingelöst wurde. Die CHRONICLES verweigern sich gar nicht dem Party-HipHop, sie stehen aber mit jedem zweiten Beat im Ragga und mit jedem zweiten Sample in einem damals weitgehend unerforschten Universum für musikalisch Andersdenkende.

***** Frank Sawatzki

PAUL MCCARTNEY & WINGS

WINGS OVER AMERICA

Concord/Universal

Mit dieser Live-Werkschau rockte und croonte sich der Ex-Beatle 1976 wieder zurück in die Herzen der Fans.

Es war nicht weniger als eine Sensation: Nach grotesk missratenen Alben, die neuerdings erstaunlicherweise Gnade bei Rezensenten und Rezipienten finden, einem guten -BAND ON THE RUN – und einigen mediokren ließ es sich Paul McCartney auf der 1976er-Wings-Tour durch Nordamerika angelegen sein, tief ins Fab-Four-Schatzkästlein zu greifen. Und siehe: Das Publikum raste vor Begeisterung, als es „Lady Madonna“ und „The Long And Winding Road“,“I’ve Just Seen A Face“,“Blackbird“ und „Yesterday“ zu hören bekam – die drei Letztgenannten im Rahmen eines Akustiksets, in das auch Paul Simons Dramolett „Richard Cory“ perfekt passte. Besonders frappierend indes der Qualitätssprung bei all den bis dato ein wenig belächelten McCartney-Songs der Post-Beatles-Ära: Was Inspiration, Spielfreude und ein bestens eingespieltes Team -neben Paul und Linda noch Denny Laine und Jimmy McCullough an diversen Gitarren, Joe English am Schlagzeug plus eine dreiköpfige Bläsergruppe – doch auszurichten vermögen. Plötzlich tönten „Spirits Of Ancient Egypt“,“Listen To What The Man Said“,“Magneto And Titanium Man“,“Silly Love Songs“ – ganz zu schweigen vom BAND ON THE RUN-Material und der Hitsingle „Hi Hi Hi“ – so frisch und mitreißend wie einst im Mai. Was folgte: ein paar gute – FLOWERS IN THE DIRT (1989), CHAOS AND CREATION IN THE BACKYARD (2005) – und viele mittelmäßige Longplayer, zwei Oratorien und Live-Alben ohne Zahl. Doch hier, im Sommer 1976, auf WINGS OVER AME-RICA, erleben wir Paul McCartney auf dem Höhepunkt seines (Solo-)Schaffens. Jetzt wird die im Original als Drei-LP-Set veröffentlichte Live-Werkschau neu aufgelegt, klangtechnisch auf dem neuesten Stand und in verschiedenen Konfigurationen: für den kleinen Geldbeutel als Doppel-CD, etwas teurer als Dreifach-Vinyl-Box, jeweils mit dem Originalmaterial, sowie als kostspielige, weil limitierte „Super Deluxe Edition“. Die enthält dafür aber auch drei CDs, darunter eine Bonus-Disc mit Aufnahmen von einem Gig in San Francisco, eine DVD mit dem TV-Special „Wings Over The World“ und eine üppige Bildergalerie sowie vier (!) Bücher mit Songtexten, Fotos, Memorabilia und allerlei Krimskrams. Make your choice.

**** Peter Felkel

ORCHESTRE POLY-RYTHMO DE COTONOU

VOLUME 3 – THE SKELETAL ESSENCES OF VOODOO FUNK 1969-1980

Analog Africa/Groove Attack

Die dritte Compilation zum Groove-Ensemble aus Benin: Afrobeat aus dem Geist des Club-Entertainments

Wir kennen diese Dimensionen ja von Fela Kuti, wie viele Alben der König des Afrobeat veröffentlicht hat, wird sich nie mehr genau ermitteln lassen. Nicht viel übersichtlicher ist das Œuvre des Orchestre Poly-Rythmo De Cotonou, inklusive all der Single-Veröffentlichungen reicht der Output des außerordentlichen Groove-Ensembles aus Benin ins Dreistellige. Die Band des im vergangenen Dezember verstorbenen Leadsängers Melome Clement ist durch die hohe Schule des Club-Entertainments gegangen, jeden Abend einen Schuppen bis ins Morgengrauen rocken, das war eine Nonstop-Feuerprobe, die prägte. Das Orchestre Poly-Rythmo De Cotonou spielte und nahm zwischen 1969 und 1983 auf, seine Plattenveröffentlichungen spiegeln die immensen Live-Erfahrungen wider, sie sind Zeugnisse einer exzessiven Körperlichkeit. Die Aufnahmen entstanden mit einem oder zwei Mikrofonen oft zur Abendzeit in privaten Gärten und Wohnzimmern, die Band wogt in den Schleifen der Polyrhythmik, webt Farfisa-Soli, Psychedelic-Rock-Riffs, Elemente aus Rumba und regionalen Vodoun-Traditionen wie selbstverständlich in ihre Tracks ein. Manchmal klingt das, als hätten sich James Brown und Carlos Santana zu einer geheimen Session in Cotonou verabredet, aber das ist schon wieder ein Vergleich aus der Perspektive des anglo-amerikanisch popsozialisierten Kritikers. Man darf die Geschichte auch andersherum lesen: Mit nachtschwärmerischen Groove-Expeditionen wie diesen lernten die Rock-und Popstars des Westens überhaupt erst den Swing kennen. THE SKELETAL ESSENCES OF VOODOO FUNK ist schon die dritte Poly-Rythmo-Compilation aus dem Hause Analog Africa. Dessen Chef Samy Ben Redjeb wird weitere Schätze aus dem Riesenrepertoire der Band heben. Im Unterschied zu Fela Kuti passt doch über ein Dutzend Stücke der Poly-Rythmos auf ein Album, sie kondensierten ihre Rausch-Erlebnisse in Unterzehnminutentracks.

***** Frank Sawatzki

R.E.M.

GREEN – 25TH ANNIVERSARY DELUXE EDITION

Rhino/Warner

Alternative Rock: R. E. M. wechseln 1988 vom Indie- in den Major-Modus.

Fünf Alben lang, vom Debüt MURMUR von 1983 bis DOCUMENT 1987, waren R. E. M. das gute Gewissen des amerikanischen Indie-Rock. Als das Quartett aus Athens, Georgia 1988 bekannt gab, dass es seinen Vertrag beim Independent-Label I. R. S. wegen Unzufriedenheit beim weltweiten Vertrieb auslaufen lassen würde, um beim Mediengiganten Warner zu unterschreiben, befürchteten nicht wenige Fans den Ausverkauf nicht nur der musikalischen Ideale. Besänftigen ließ sich die Stimmung mit dem Warner-Erstling GREEN, ein Album über politische wie soziale Verantwortung inklusive Umweltproblematik, das allein in den USA Doppelplatin einheimste und auch die Verkäufe der Albenvorgänger noch einmal kräftig ankurbelte. Zugute halten musste man Michael Stipe und Co., dass sie nicht beim Höchstanbieter unterzeichneten, sondern gegen ein gewiss noch immer beachtliches Sümmchen den Zuschlag Warner gaben, weil ihnen dort vollkommene künstlerische Freiheit garantiert wurde. In Gemeinschaftsproduktion mit Scott Litt entstanden in den Ardent Studios von Memphis und in den Bearsville Studios von Woodstock elf Songs, die in der Vinyl-Edition in eine „Air Side“ und „Metal Side“ aufgeteilt wurden. Kräftig angehoben wurden die weltweiten Absatzzahlen durch ohrwurmige Singlesauskopplungen: „Stand“,“Orange Crush“, „Pop Song 89“ und „Turn You Inside-Out“. Gitarrist Peter Buck machte den stilistischen Wechsel in einem Interview von 1988 deutlich: „Anstatt auf Moll, Midtempo und enigmatische Semi-Folk-Rock-Balladen konzentrieren wir uns nun auf Rocksongs in Dur und geänderter Instrumentierung.“ Doch letztendlich blieben die Unterschiede marginal und die „alten“ R. E. M. schimmerten an allen Ecken durch. Die GREEN 25TH ANNIVERSARY DELUXE EDITION in einer Hartkartonbox enthält das 2013 digital optimierte Originalalbum mit dem 21-Song-Konzertmitschnitt LIVE IN GREENSBORO 1989 auf einer zweiten CD, vier Postkarten, ein Poster und Liner Notes des britischen Autors Allan Jones.

***** Mike Köhler