Backkatalog

ABBA

ABBA – Deluxe Edition

Polydor/Universal

Pop: Das erste Album der Schweden nach ihrem internationalen Durchbruch: Hits, Hits, Hits, Hits, Hits und nochmals Hits.

Und weiter geht es in der nicht chronologischen Aufarbeitung des ABBA-Katalogs in der Reihe DELUXE EDITION: Immerhin sechs Single-Auskopplungen tummelten sich 1975 weltweit in den Charts und sahnten vor allem auf dem heiß umworbenem angloamerikanischen Markt ab: „Mamma Mia“, „SOS“, „I Do, I Do, I Do, I Do, I Do“, „Bang-A-Boomerang“, „I’ve Been Waiting For You“ und „So Long“ mit ihrem nonchalanten Esprit befriedigen Pop-Gelüste. „Tropical Loveland“ adaptierte Reggae, „Man In The Middle“ Funk, „Rock Me“ einmal mehr britischen Glam-Rock. Pseudoklassisch arrangiert präsentiert sich „Intermezzo No. 1“. Drei zusätzliche Songs, „Crazy World“, „Medley: Pick A Bale Of Cotton/On Top Of Old Smokey/Midnight Special“ sowie die spanische Version von „Mamma Mia“, gab es schon auf früheren Wiederveröffentlichungen. Interessant für Fans und Sammler dürfte die angehängte DVD sein mit rarem Material aus der gleichen Ära: „ABBA In Australia“ wird auf der DVD in voller Länge präsentiert. Warum „Made In Sweden – For Export “ und das britische „Seaside Special“ jeweils nur auszugsweise zu sehen sind, wissen allein die Macher der Wiederveröffentlichung. Abgerundet wird das Paket von zwei australischen TV-Commercials und einem nagelneuen Booklet, das ein Hintergrund-Essay sowie Inneneinsichten von Benny Andersson und Björn Ulvaeus enthält.

***** Mike Köhler

Bernd Begemann

Der brennende Junge – Die beliebtesten Lieder aus 25 Jahren

Tapete/Indigo

Einer der allerbesten deutschen Singer/Songwriter zieht eine beeindruckende Bilanz.

Ein paar hellsichtige Gesellschaftsanalysen, mindestens ein halbes Dutzend schlaue Polit-Songs, einige der schönsten Liebeslieder in deutscher Sprache und dann noch ein paar Sätze, die bleiben: Keine schlechte Bilanz, die Bernd Begemann ziehen kann nach einem Vierteljahrhundert im Geschäft, ungefähr 20 Alben und mehr als 300 Songs. Mit DER BRENNENDE JUNGE wird nun versucht, ein Resümee in 26 Songs zu ziehen. Was natürlich misslingen muss: Denn angesichts der schieren Größe des Werks würden auf jeder Best-of-Compilation der eine oder der andere Lieblingssong fehlen, während man sich streiten kann, ob die hämische Abrechnung mit dem „Kelly Family Feeling“ nicht eher zu den wenigen schwächeren Kompositionen des Hamburger Liedermachers zählt. Aber die meisten Klassiker sind vorhanden. Von der frühen Hamburg-Liebeserklärung „Unten am Hafen“ über die grandiose „Deutsche Hymne ohne Refrain“ bis hin zum jugendlichen Aufbruchssong „Bist Du dabei?!“, vom Sturm und Drang in „Unsere Liebe ist ein Aufstand“ über das hoffnungslos romantische „Wir werden tanzen“ bis zum letzten Dann-doch-wieder-kein-Hit „Wilde Brombeeren“ beweist diese Zusammenstellung mal wieder, was man schon lange wissen konnte: Dass Bernd Begemann nicht nur ein großartiger, wenn auch bisweilen erratischer Live-Entertainer ist, sondern vor allem einer der allerbesten Songschreiber, den dieses Land jemals hervorgebracht hat.

*****1/2 Thomas Winkler

Johnny Cash

The Complete Columbia Album Collection

Columbia/Sony Music

Country: Epochale Collection des „Man In Black“ mit 59 Original-Alben, zwei Raritäten-CDs und einer Compilation der Sun-Jahre.

Für jüngere Generationen bleibt der 2003 mit 71 Jahren verstorbene Johnny Cash hauptsächlich durch seine letzten Arbeiten mit Rick Rubin in Erinnerung: ein Alter, Krankheit, Lebensmühsal und Tod trotzender Langzeitüberlebender aus einer längst vergangenen Epoche, der mit brüchig gewordener Stimme plakative Weisheiten in Form rustikaler Coverversionen der Nachwelt hinterlässt. Doch selbst Beobachtern, die den Weg Cashs von 1955 an intensiv verfolgen, werden mit einer nicht greifbaren Persönlichkeit konfrontiert: Johnny Cash war Visionär, Suchender, Süchtiger, Prediger, Getriebener, Verzweifelter, Geschichtenerzähler, Provokateur, Moralist, Gesetzloser, Philanthrop sowie Fürsprecher der Schwachen und Ausgestoßenen – das sind nur einige der Facetten des nicht nur als Sänger, Gitarristen und Komponisten, sondern auch als TV-Entertainer und Filmschauspieler in Erscheinung getretenen Multitalents. THE COMPLETE COLUMBIA ALBUM COLLECTION unternimmt den Versuch, mit 59 Originalalben plus einer Doppel-CD mit Singles und Raritäten sowie einer 28-Song-Collection aus der Frühzeit bei Sun Records dem Phänomen „Man In Black“ auf die Spur zu kommen. Mitunter Schindluder getrieben wurde mit dem Material, das Cash, der im Alter nahtlos Country-Wurzeln, Rockabilly-Anfänge und Traditional-Folk-Erbe der Carter Family mit Soundgarden, Depeche Mode und Nine Inch Nails zu verbinden verstand, zwischen 1958 und 1985 für Columbia einspielte. Zahllose dunkle Nischen und Ecken Cashs werden beleuchtet: Obskure Soundtracks, Importwerke, Konzertmitschnitte, Weihnachtsalben, Kinderplatten, Duette, Kollaborationen, Religiöses und Historisches. Komplett ausgespart bleiben die AMERICAN RECORDINGS und die BOOTLEG SERIES. In ihrer erhabenen Schlichtheit und mit einem spartanischem Produktionsstil überzeugen Frühwerke wie THE FABULOUS JOHNNY CASH (1959) und die zweite Gospel-Collection HYMNS FROM THE HEART. Wenn sich Cash eines Songs annimmt, vereinnahmt er ihn – gleich, welcher Epoche er entstammen mag. Legendäres wie AT FOLSOM PRISON und AT SAN QUENTIN steht neben Rarem wie dem Thema Tod gewidmeten SONGS OF OUR SOIL (1959), der Völkermordanklage BITTER TEARS: BALLADS OF THE AMERICAN INDIAN (1964), purer Nostalgie von SINGS THE BALLAD OF THE TRUE WEST (1965) und EVERYBODY LOVES A NUT (1966) mit den Novelty-Songs „Dirty Old Egg Sucking Dog“ und „The Bug That Tried To Crawl Around The World“. AMERICA: A 200-YEAR SALUTE IN SONG AND STORY mit Hörspielcharakter von 1972 kann als Experiment abgehakt werden. Geschmeidig verlief Cashs Karriere von den Sechzigern bis Anfang der Siebziger, dank Ehegattin June Carter und zeitloser Hits wie „Ring Of Fire“, „Jackson“, „A Boy Named Sue“, „If I Were A Carpenter“ und „Sunday Morning Comin‘ Down“. Johnny Cash wurde Talentförderer von Kris Kristofferson und Tim Hardin und präsentierte den zum Country konvertierten Bob Dylan in seiner TV-Show. Nach 1972 umwehte den Veteranen bis zum Ende der Dekade Sentimentales: RAGGED OLD FLAG (1974), LOOK AT THEM BEANS (1975) und I WOULD LIKE TO SEE YOU AGAIN (1977) eignen sich nur bedingt, um die Legende am Leben zu halten. Zwischen 1980 und 1983 gelang eine wohl eher zufällig auf Maß gearbeitete Vierer-Collection: ROCKABILLY BLUES mit Schwiegersohn Nick Lowe und dessen Band Rockpile, das von Billy Sherrill produzierte THE BARON, der von Jack Clement betreute Country-Purismus THE ADVENTURES OF JOHNNY CASH und JOHNNY 99 atmeten endlich wieder Authentizität. Auf THE SURVIVORS LIVE vereinte Cash sich mit den Sun-Kollegen Carl Perkins und Jerry Lee Lewis. Mit Waylon Jennings, Willie Nelson und Kris Kristofferson entstand 1985 das Album HIGHWAYMAN, dem fünf Jahre später Teil 2 folgte.

****** Mike Köhler

Lana del Rey

Born To Die – The Paradise Edition

Vertigo Berlin/Universal

Pop: Reissue des Erfolgsalbums mit acht neuen Songs.

Nach einem knappen Jahr also das Update: Lana Del Rey veröffentlicht zum Weihnachtsgeschäft ihr Erfolgsalbum Born To Die ein zweites Mal. Mit acht neuen Songs und neuem Artwork. Natürlich verwaltet das neue Material eher das Bestehende, als Neuanfänge zu suchen. Sogar das ambitionierteste der Stücke, „Ride“, fragt routiniert herkömmlichen Del-Rey-Stoff ab. Die Reise als Symbol fürs Nie-bei-sich-Ankommen, als sexuell konnotierte Rastlosigkeit. Die klare Trennlinie zwischen Weibchen (schwach, aber sexy) und Männchen (verwegen und stark, gerne tätowiert). Kann man schon machen und ist in sich schlüssig, was auch an Rick Rubin liegen dürfte, der die Dramaturgie des Popsongs eben besser beherrscht als Justin Parker oder Emile Haynie, die das Debüt produzierten und auch hier wieder an einigen Songs beteiligt sind. Das erklärt womöglich die Überraschungsarmut der anderen Songs, die durch einige Stolperstellen unterbrochen werden, die mal wie gezielte Provokation wirken („My pussy tastes like Pepsi Cola“, „Cola“), mal wie etwas liebloses Outtake-Material aus Born to Die. Hinreichend klagend dagegen ist die Coverversion von „Blue Velvet“, die la Rey für einen großen Textildiscounter einspielte. So bleibt man am Ende unsicher. Hat Lana Del Reys Platte schon nach so kurzer Zeit einen Sprung? Oder darf man das hier als Pflichtabgabe fürs Weihnachtsgeschäft verstehen? Wir sind gespannt, was noch kommt.

***1/2 Jochen Overbeck

Interpol

Turn On The Bright Lights

Cooperative Music/Universal

Eine Wiederveröffentlichung zum Zehnjährigen des Gruft-Pop-Klassikers, die nicht Not getan hätte.

Hinterher ist man ja immer schlauer. Manchmal dauert es bloß etwas länger. In diesem Fall anscheinend zehn Jahre, denn so lange ist es her, dass TURN ON THE BRIGHT LIGHTS erschien. Mittlerweile hat allerdings die Erkenntnis Raum gegriffen, dass Interpol mit ihrem Debüt dereinst zwar nicht den Pop neu erfunden, aber doch ein Genre etabliert haben. Oder wenigstens einen Trend einleiteten. Danach kamen die Editors und eine überschaubare Zahl unbekannterer Brüder im Geiste wie White Lies und I Like Trains. Sie alle bezogen sich natürlich zuallererst auf Joy Division, aber Interpol kommt die Ehre zu, als erste in den Nullerjahren den Gruft-Pop so modernisiert zu haben, dass er als modisches Einrichtungsdetail taugte für Menschen, denen es zu kindisch wäre, sich in schwarze Wallegewänder zu werfen. Nun feiert TURN ON THE BRIGHT LIGHTS Jubiläum und zu diesem Anlass darf man feststellen: ein paar sehr starke Songs, gutes Album, wenn auch Interpol selbst später Besseres lieferten. Die elf Tracks wurden remastert, klingen nun vielleicht etwas luftiger, einen Hauch transparenter, womöglich sogar etwas kraftvoller. Warum man sich das allerdings zulegen muss, wenn man das Original im Schrank hat, bleibt ein Rätsel, vor allem weil in der deutschen Ausgabe des Reissues auf die Outtakes, B-Seiten und Live-Videos verzichtet wird.

****1/2 (Album)

** (Reissue) Thomas Winkler

A.R. Kane

Complete Singles Collection

One Little Indian/Rough Trade

Die Genrebezeichnung „Dreampop“ greift zu kurz bei diesem Duo. Und diese Collection natürlich auch.

Anhand des Werdegangs von A.R. Kane ließe sich wunderbar erklären, wofür der Begriff Kultband tatsächlich steht – oder besser: einmal stand. Jene jedoch, die sich das hinter die Ohren schreiben sollten, die Couch-Durchsitzer irgendwelcher „Chart-Shows“ zum Beispiel, die sich darauf einigen können, dass Bands wie Culture Club „damals total Kult“ waren, kennen ja offensichtlich keinen Input – nur Output. A.R. Kane waren ein Duo aus dem Osten Londons, das vor allem in der ersten Hälfte seines Wirkens (1986-1994) ein enorm wichtiges Bindeglied zwischen The Jesus And Mary Chain, Cocteau Twins und Shoegaze, zwischen New Order, Dub, Acid House und Madchester und zwischen Indiegitarrenpop und Postrock bis hin zum TripHop bildete. Im Königreich wurde man dem durchaus gewahr. A.R. Kane veröffentlichten bei angesagten Labels wie One Little Indian, 4AD und Rough Trade, die Kritiken fielen fast einvernehmlich schwärmerisch aus. Doch letztlich war ihre Musik – die sich anfangs von Noiserock bis Industrial ausdehnte, später poppiger und tanzbar wurde, aber diese gewisse Wolkigkeit nicht ablegen wollte – zu ambivalent für das größere Publikum. Den einzigen Hit hatten sie als die eine Hälfte des Kollektivs M/A/R/R/S, das mit „Pump Up The Volume“ das Sampling im großen Stil in die Popmusik einführte. Die vorliegende Singles Collection bleibt trotz ihres Vorzugs, auf kurzem Weg durch das Werk des Duos zu gelangen und auch das Material der ersten beiden EPs zu kredenzen, ein Fall für Spezialisten – die sich zum Beispiel den Clubhit „A Love From Outer Space“ unbedingt auch in vier verschiedenen Mixversionen anhören wollen. Wer sich aktuell allerdings gerne mit mehr oder weniger verblasener Popmusik auseinandersetzt, wie sie zum Beispiel auf dem Brooklyner Label Captured Tracks erscheint, dem sei eine Beschäftigung mit dem Werk von A.R. Kane warm empfohlen.

**** Oliver Götz

To Rococo Rot

Rocket Road. 1997-2001

City Slang/Universal

Drei Alben des Berliner Electronica-Trios in einer handlichen Box.

Als das Berliner City-Slang-Label 1999 das Album THE AMATEUR VIEW veröffentlichte, befand sich das, was wir Pop genannt haben, in einer Art Wartestand – ohne Aussicht auf eine neue alles einnehmende Entwicklung, ohne Hoffnung auf revolutionäre Kräfte, wie sie die vergangenen Jahrzehnte bestimmt hatten. Nur so viel wussten wir: Unsere Leben waren elektronisch geworden, doch die Zuckungen von Techno gehörten schon wieder der Vergangenheit an. In dieses Vakuum traten Robert Lippok, Ronald Lippok und Stefan Schneider mit ihrer Tracksammlung, die vor lauter Ruhe aus den Nähten zu platzen schien. „I Am In The World With You“ zu Beginn des Albums ist die beste Beistandsmusik dieser Tage gewesen, ein programmatischer Titel. Mikroskopisch kleine Klangbilder voller melancholischer Momente, ästhetische Erkundungen und Alltagsbilder statt kühner Entwürfe und formelhafter Versprechungen. City Slang hat sich jetzt mit einer aus dem eigenen Backkatalog zusammengestellten 3-CD-Box (wahlweise: Vinyl-Ausgabe) dieser bahnbrechenden Musik erinnert: Neben THE AMATEUR VIEW erscheinen VEICULO (1997) und MUSIC IS A HUNGRY GHOST (2001), um Remixe (u. a. Four Tet, Mira Calix) ergänzt. In einigen der 1997er-Tracks hallen ferne Erinnerungen an den Krautrock nach; im Großen und Ganzen aber entstand in den elektronischen Geschichten der Berliner ein Soundtrack zur Warteschleife in sich immer neu und ganz unaufgeregt zusammenfindenden Bausteinen. Später fand das, was To Rococo Rot sich erarbeiteten, mit dem Label „Indietronics“ Eingang in die Popsprache. Was wir damals noch nicht wissen konnten: Diese von Zukunft befreite Musik sollte die Musik der Zukunft sein, wir warten immer noch.

***** Frank Sawatzki