Blau ist eine warme Farbe :: Regisseur: Abdellatif Kechiche, Frankreich 2013
Love is blue: Abdellatif Kechiches gewagter Entwurf der ganz, ganz großen Liebe.
Ein halbes Jahr nach dem Festival in Cannes, wo Abdellatif Kechiches, nennen wir es einmal, Annäherung an Julie Marohs Comicroman mit der Goldenen Palme als bester Film ausgezeichnet wurde, ist die dreistündige Liebes- und Trennungsgeschichte zweier junger Frauen in Lille vereinnahmt worden von einem erbitterten öffentlichen Streit: In Gang gesetzt von ätzenden Kritiken, die dem arabischstämmigen französischen Regisseur wegen einer langen, ausgesprochen expliziten Sexszene einen „geilen männlichen Blick“ attestierten, und einem Essay Marohs, die sich beklagte, der Film habe zu wenige echte Lesben, entspann sich ein hitzig geführter Diskurs über Sexualität, speziell Sexualität im Film, an dessen bisherigem Ende das Zerwürfnis zwischen dem Filmemacher und seinem Star Seydoux stand.
Das ist tragisch. Weil diese Art von Diskussion keine Gewinner kennen wird. Und weil man dieses aufregende Meisterwerk nie wieder so unschuldig erleben können wird wie an jenem Mittwoch im Mai, als die Journalisten eine Stunde im strömenden Regen warten mussten, um ins Kino gelassen zu werden, und dann kalt erwischt wurden von diesem entwaffnenden Porträt einer Liebe, die sich so betont allen Kategorisierungen entziehen will. Marohs Comic mag ein Plädoyer für die LGBT-Gemeinde sein. Kechiche hat ein universelles Statement im Visier, festgemacht an einer Liebe zwischen zwei Frauen.
Die Gefühle, die verhandelt werden, sind durch und durch menschlich: Das Schwelgen ist ebenso echt wie der Schmerz und die Erkenntnis, dass in den meisten Beziehungen einer dazu verdammt ist, den Abwasch zu machen. Ich will nicht behaupten, recht zu haben, aber gerade weil der Film als intimes Porträt so allgemeingültig ist, mag er seine Sexszenen – die niemals so intim sind wie die Aufnahmen vom Gesicht der Protagonistin Adèle, gespielt von der großartigen Entdeckung Adèle Exarchopoulos – zwar durch Kechiches Blick filtern, der zwangsweise „geil“ und „ männlich“ sein muss, aber ich begreife sie als mutiges politisches Statement eines arabischen Filmemachers für eine arabische Jugend.
Letztlich ist die Szene so lang, dass man als Zuschauer Zeit genug hat, genau zu überlegen, wie und warum man auf sie reagiert. Jedenfalls leben wir nicht mehr in den Fünfzigern, als französische Kunstfilme die einzige Möglichkeit waren, nackten Frauen in Bewegtbild zuzusehen.
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