BUCH
EIN DEUTSCHER SOMMER
von Peter Henning
Geschichten um das Geiseldrama von Gladbeck ergeben ein Porträt der späten BRD.
Da ist Adam Jalowy, der polnische Busfahrer aus Bremen. Da ist Chris Mahler, die in derselben Stadt Taxi fährt. Rolf Kirchner leitet das SEK der Polizei in Dortmund. Brigitte Fischer schreibt „Mireille“-Liebesromane und verlässt ihr Haus kaum noch. Peter Ahrens hat Reporterglück. Thomas Bertram muss um das Leben seines neugeborenen Sohnes fürchten wie um seinen Job bei RTL. Es sind gewöhnliche Menschen, die das Personal für Peter Hennings Roman bilden, der davon handelt, was all diese Menschen an drei heißen Tagen im August 1988 taten, fühlten und dachten – und was davon mit dem Geiseldrama zu tun hat, das am 16.8.88 in Gladbeck begann und bald die ganze Bundesrepublik in Atem hielt.
Nach einem Bankraub in Gladbeck fuhren die Gangster Rösner und Degowski mit Geiseln durchs halbe Land, zeitweise mit einem Linienbus mit 32 Passagieren. Das Geiseldrama ging vor allem als Grenzüberschreitung der Medien in die Geschichte ein, die Gangster und Geiseln vor laufender Kamera interviewten, den entführten Bus in Scharen verfolgten und schließlich in den Fluchtwagen einstiegen und ihn Richtung Autobahn lotsten. Drei Menschen starben: ein Polizist, ein 15-jähriger Junge, und beim Finale auf der A3 tötete ein Schuss aus Rösners Waffe die 18-jährige Silke Bischoff – eine deutsche Dark-Wave-Band benannte sich nach ihr.
Man erfährt das alles in diesem Roman. Und doch spielt das dramatische Geschehen fast im Hintergrund, während die Romanfiguren mit ihrem Leben beschäftigt sind. Ähnlich gebaut waren auch schon Hennings vorige Romane, nur dass der Punkt, um den sich die Episoden drehten, ein Erdbeben oder ein Familientreffen waren. Die Wahl dieses Verbrechens als Kern, dem sich das Erzählte mal mehr, mal weniger annähert, ist geschickt. Es macht die Sache spannend. Aber Hennings Sprache wird nicht grell, er nähert sich seinem großen Stoff respektvoll und lässt seiner Fabulierlust lieber Lauf in den Schicksalen seiner erfundenen Figuren. Man meint über diese 600 Seiten die Hitze des Sommers und die Hitze der Ereignisse zu spüren. **** Felix Bayer
DENIMPOP. JEANSDINGE LESEN
herausgegeben von Katharina Hohmann und Katharina Tietze
Jeans als Farbe und Verweis: Nachdenken über einen allgegenwärtigen Stoff.
„Jeansdinge sind keine Jeans“, schreibt Katharina Hohmann: „Jeansdinge sind Gegenstände, die aus Jeans gemacht oder mit Jeansstoff bezogen sind, die aus Jeans imitierenden Materialien bestehen oder deren Oberflächen mit Abbildungen von Jeans bedruckt sind.“ Zwei Kunstprofessorinnen aus der Schweiz haben in diesem Buch schlaue Leute versammelt, die mit unverhohlener Freude über ein Teil aus der Sammlung schreiben. Manchmal wird mit großem Theorie-Geschütz gefeuert, wie von Peter Ott: „Der Grad der Geflicktheit konnte so eine Maßeinheit der Subjektivierung in einer von industriellen Fertigungsprozessen bestimmten Welt der Dinge darstellen. Gleichzeitig war das Aufreißen der Jeans-Oberf läche und die Zerfaserung ihrer Ränder vielleicht ein stummer Protest der Dinge gegen die euklidofaschistische Geometrie.“ Vergnüglich liest es sich, wenn Thomas Meinecke über Jeans in Songtiteln spricht oder Roger Behrens mit marxistischem Besteck das Cover von STICKY FINGERS bearbeitet. Bloß: Warum kein Wort über das Jeans-Sparbuch, das der Autor dieser Zeilen sein Eigen nannte?
****1/2 Felix Bayer
ERINNERUNGEN AN WHITNEY
von Cissy Houston
Die strenge, prinzipienfeste Mutter über das Kind, das ihr entglitten ist.
Am 11. Februar 2012 starb Whitney Houston, sie wurde nur 48 Jahre alt. Eine Welle der Trauer ging um die Welt, man war fassungslos – obwohl ja eine Drogenvorgeschichte bekannt war. Doch Whitneys Mutter, Cissy Houston, fand die Kraft, vom Leben ihrer Tochter zu erzählen. „Meine Kindheit hatte mich abgehärtet“, schreibt sie, „aber meine Kinder – ganz besonders Nippy – wurden nie so zäh wie ich.“ Nippy, das war der Familienspitzname von Whitney Houston. Ihre gläubige Mutter Cissy will so manches schon vorher gewusst haben: Sie mag die beste Freundin nicht, warnt vorm späteren Ehemann Bobby Brown. Doch hat sie die Größe, beiden nicht die Schuld zu geben für den Niedergang und schließlich den Tod ihrer Tochter. „Sie kämpfte gegen einen Dämon, den ich einfach nicht kannte“, sagt sie zu den Drogenproblemen der Sängerin. Natürlich gibt es nicht nur die eine Erklärung, warum Whitney Houstons Leben in der Badewanne des Beverly Hilton endete, und Cissy Houston tut auch nicht so, als hätte sie sie. Stark sind ihre Erinnerungen besonders, wenn sie von den Kämpfen einer Frau erzählt, die zwischen Ruhm, Religion und traditionellen Regeln versucht, das Richtige zu tun.
***1/2 Felix Bayer
STROM
von Hannah Dübgen
Das Große liegt im Kleinen: Hannah Dübgen verwebt die Schicksale vierer Menschen, die alle auf ihre Art verloren sind.
Man ist nah dran bei Hannah Dübgen. Wenn sie erzählt, wie Jason, der Investmentbanker, nach einem Geschäftstermin auf einem Parkplatz in Kalifornien steht und letzte Beiläufigkeiten mit dem Geschäftspartner wechselt. Wenn sie erzählt, wie eine Pianistin in Paris ohne vorherige Information des Concierge ihren Konzertflügel per Kran in die Wohnung in den vierten Stock heben lässt, wie sie Konzerte gibt und gleichzeitig wahnsinnige Angst davor hat, dass sich bald alles ändert. Wenn die Krankheit geschildert wird, die zum Tod führt, und die Liebe, die eigentlich eine Krankheit ist. Man ist aber nie zu nah dran, vielleicht ein bisschen wie im Theater, was auch das Hauptbetätigungsfeld der Debütantin ist. Dübgen ist gut im Timing, wechselt die Perspektiven immer dann, wenn ihre elegische Erzählweise droht, ihre Charaktere allzu genau auszuleuchten und wechselt vor allem auch die Orte, nimmt den Leser mit nach Israel und Japan. Ein bisschen Zeit muss man sich nehmen. Sich akklimatisieren. Längen und inhaltliche Brüche als solche akzeptieren. Dann kann man als Leser ganz gut mitschwimmen, im „Strom“.
****1/2 Jochen Overbeck
EXODUS
von DJ Stalingrad
Drastische Szenen eines Redskin-Hooligans aus der postsowjetischen Hölle.
„Das Leben ist eine Pokerrunde“, heißt es in diesem Buch, „und du hast ein totales Scheißblatt.“ Der Ich-Erzähler und seine Moskauer Freunde – Redskins, Spartak-Hooligans, Antifa-Aktivisten – lieben den Kitzel der Gewalt, wenn sie außerhalb der Stadt Hardcore-Konzerte organisieren und mit der Polizei und örtlichen Klotzköpfen aneinandergeraten. Der Mann, der sich DJ Stalingrad nennt, erzählt davon atemlos und mit Details, die einen bei der Lektüre etwas abstumpfen lassen. Aber so wie der britische Skinhead-Romancier Stewart Home, versetzt er seine Gewaltepisoden mit pamphletartigen Erklärungsansätzen. Und zwischendurch überrascht er mit profunden musikhistorischen Exkursen. Inzwischen ist bekannt, dass sich Petr Silaev hinter dem Pseudonym DJ Stalingrad verbirgt, der im europäischen Ausland von Russland noch immer per Interpol gesucht wird – wegen einer Randale-Demo gegen eine Waldrodung. Sein Erzähler sagt: „Ich weiß nicht, wann wir hätten aufh ören sollen. (…) Wann soll man denn passen wie beim Poker, wann die Karten hinwerfen?“ Manchmal entscheiden das andere für einen.
**** Felix Bayer
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