Die Ganze Pracht

TM (1991) 5 Ihr Debütalbum veröffentlichen Pearl Jam bereits im August 1991, doch erst als einen Monat später Nirvanas NEVER-M1ND erscheint und die Charts erobert, wird auch TEN die Aufmerksamkeit der breiten Öffentlichkeit zuteil. Drei Monsterhits – „Alive“, „Even Flow“ und „Jeremy“ – katapultieren die Platte bis auf Platz zwei der Billboard-Charts, Eddie Vedders ehrliche, düster-emotionale Texte treffen den Nerv der Zeit und machen ihn zum neuen Posterboy der Generation X. Während TRN für Kritiker und Fans zur Messlatte von Pearl Jams Erfolg wird, ist die Band selbst mit der bombastischen Produktion von Rick Parashar nie ganz zufrieden. Auch das Songwriting, das Stone Gossard und Jeff Ament hier noch im Alleingang übernehmen, ist rückblickend betrachtet untypisch und voller Hardrockriffs. Selbst die theatralische Ballade „Black“ schreit „Stadion!“. TEN wirkt damit eher wie eine letzte Platte von Mother Love Bone als das Debüt der größten 90er-Garagenband. Zu ihrem eigenen Sound finden Pearl Jam erst in den folgenden Jahren.

vs. (1993) 6 Von den Verkaufszahlen der ersten Platte unbeeindruckt, geht die Band nach einer zweijährigen Welttournee gleich wieder ins Studio. Die neuen Songs entstehen in Jamsessions und klingen verspielter, aggressiver und facettenreicher als die des Vorgängers, was nicht zuletzt ein Verdienst des neuen Produzenten Brendan O’Brien ist. Erstmals äußert Eddie Vedder politische Ansichten in seinen Lyrics: In „W.M.A.“ thematisiert er Rassismus und Polizeigewalt, „Glorified G“

verhöhnt schießwütige Amerikaner. Den von teenage angst getriebenen Adoleszentcn gibt der damals fast 30-jährige Vcdder nur noch beim hymnischen „Leash“, ansonsten schlüpft er immer öfter in die Rolle des Geschichtenerzählers („Elderly Woman Behind The Counter In A Small Town“, „Dissident“, „Daughter“). Dass Pearl Jam sich fortan weigern, Videoclips zu ihren Songs zu drehen, schadet dem Erfolg der Platte nicht: VS. verkauft sich in der ersten Woche fast eine Million Mal -und hält damit fünf Jahre lang einen Rekord.

VITALOGY

(1994) 5 So sehr sich Pearl Jam auch bemühen, ihren Erfolg zu ignorieren, ganz gelingt es ihnen nicht. Am Höhepunkt des Grunge-Hypes droht die Band zu zerbrechen: Mike McCready muss zur Reha, Drummer Dave Abbruzzese schottet sich immer mehr von den anderen ab, Stone Gossard gibt den Posten des Bandleaders entnervt an Eddie Vedder ab. Der führt Pearl Jam weg vom Stadionrock der frühen Tage und hin zu punkigeren Klängen. VITALOGY gerät wohl auch deshalb so unverschnörkelt und direkt, weil das Album größtenteils auf Tour entsteht. Zwischen zornigen Rocksongs finden sich drei große Balladen („Nothingman“, „Better Man“, „Immortality“) und eigenartige experimentelle Stücke („Pry, To“, „Bugs“, „Aye Davanita“, „Hey Foxymophandlemama, That’s Me“). Brendan O’Brien verpasst dem Ganzen einen staubtrockenen Sound, den Pearl Jamauf den künftigen Alben reproduzieren werden. Auch das aufwändige Artwork wird stilprägend: Nach VITALOGY erscheint jede Pearl-Jam-Platte in einer ausgefallenen Papp-Aufmachung.

NO CODE

(1996)

3,5

Pearl Jam gönnen sich keine Pause: Mit NO CODE veröffentlichen sie ihr viertes Album in fünf Jahren und ihr bisher ungewöhnlichstes dazu. Während die Hälfte der Songs auch von VITALOGY hätte stammen können, klingt der Rest nach einer eigenartigen Mischung aus Weltmusik und dem dritten Album von Led Zeppelin. Keinen geringen Anteil daran hat Jack Irons: Der ehemalige Drummer der Red Hot Chili Peppers ersetzt Dave Abbruzzese und verpasst einigen Songs tribal-artige Percussion. Zwar steht Pearl Jam ihr Expenmentierwille gut zu Gesicht, doch wirken viele Stücke unfertig, manche gar wie Fragmente („Who You Are“, „Sometimes“, „In My Tree“). Daneben stehen Highlights wie die Single „Hail, Hail“, das von Mentor und Idol Neil Young beeinflusste „Smile“ und Eddie Vedders Selbstreflexion „Off He Goes“. Mit dem Sound von TEN hat all das nur noch wenig zu tun, was sich auch in den Verkaufszahlen niederschlägt. Der Trubel um Pearl Jam beginnt sich langsam zu lösen — niemand ist darüber glücklicher als Pearl Jam selbst.

YIELD

(1998) 3 1998 haben von Nirvana über Alice In Chains bis hin zu Soundgarden die meisten Grunge-Bands (vorerst) das Zeitliche gesegnet. Dem Albumtitel YIELD (dt: „Ausbeute“) kommt daher symbolische Bedeutung zu: Pearl Jam haben begriffen, dass sie die Dinge entspannter angehen müssen, um nicht vom Schicksal ihrer Kollegen ereilt zu werden. Erstmals seit VS. nimmt man sich wieder mehr Zeit, um gemeinsam Songs zu schreiben. Doch Pearl Jam sind nicht mehr dieselben wie früher: Sie sind reifer geworden, nachdenklicher. Auf Platte klingt das allerdings allzu oft nach vorgezogener Altersmüdigkeit. Bis auf „Brain Of J.“ und „Do The Evolution“ enthält YIELD keine flotten Stücke. „No Way“ und „Pilate“ klingen wie langweilige Soundgarden-B-Seiten, „Given To Fly“ klaut ungeniert von Zeppelins „Going To California“, die Basslinie von „Push Me, Pull Me“ entlehnt Jeff Ament bei Rides „Seagull“.

weiter auf Seile 76

Offenbar mangelt es Pearl Jam an eigenen Ideen. Immerhin gelingen mit „Wishlist“, „Low Light“ und „All Those Yesterdays“ drei schöne Balladen, die Y1EI.D insgesamt allerdings kaum weniger belanglos erscheinen lassen.

BINAURAL (2000) 2,5 Die Band gibt sich alle Mühe, frischen Wind in alte Segel zu blasen: Mit Tchad Blake wird erstmals seit V’S. ein anderer Produzent als Brendan O’Brien verpflichtet. Man experimentiert mit binauraler Aufnahmetechnik und ungewöhnlichen Arrangements (Eddie Vedders Ukulele bei „Soon Forget“, Pianokhmpern beim Columbine-Song „Rival“). Und doch: Nur wenige Momente auf BI-NAURAL sind so inspiriert wie das relaxte „Thin Air“ und das sehnsuchtsvolle „Light Years“. Von den mittlerweile obligatorischen Punksongs bleibt höchstens der Who-beeinflusste Opener „Breakerfall“ im Gedächtnis. Dass Pearl Jam großartige Musiker sind, beweisen sie ein ums andere Mal – etwa beim locker groovenden „Of The Girl“, beim floydesken „Nothing As It Seems“ und dem schleppenden „Sleight Of Hand“ – doch es fehlt an Hooks und Energie. Selbst das Schlagzeugspiel von Neuzugang Matt Cameron (vorher Soundgarden) klingt eigenartig gebremst und kraftlos. Pearl Jam stecken in der Midlife Crisis.

RIOTACT (2002) 2,5 Ihre siebte Platte nehmen Pearl Jam größtenteils live auf. Matt Cameron bezeichnet RIOT ACT deswegen als „Anti-Pro-Tools“. Wie schon der bedeutungsschwangere Albumtitel erahnen lässt, hat die Band diesmal einiges zu sagen: „Bu$hleaguer“ und „Green Disease“ beschäftigen sich mit der Lage Amerikas nach den Anschlägen des 11. Septembers, in „Love Boat Captain“ verarbeitet Vedder die Tragödie von Roskilde 2000, bei der neun Pearl-Jam-Fans unter den Massen der Zuschauer erdrückt wurden. Leider spiegelt sich die Dringlichkeit der Lyrics nur selten in der Musik wider. Nachdem ein akustisch polternder Anfang („Can’t Keep“) Hoffnung auf einen kreativen Neustart macht, versumpft Vedders pathetischer Gesang bald wieder im Einheitsbrei Pearl-Jam’scher Rocksongs. Wirklich gut gelingen abermals die introvertierten, langsamen Stücke („Thumbing My Way“, „All Or None“), ansonsten sind es eher einzelne Elemente, die aufhorchen lassen – etwa Mike McCreadys stotternder Gitarrensound bei „You Are“ und die subtilen Keyboardparts von Vedders Surfkumpel Kenneth „Boom“ Gaspar, der von da an als inoffizielles sechstes Mitglied zur Band gehört.

PEARLJAM (2006) 4 Vier Jahre vergehen zwischen RIOT ACT und dem unbetiteken, PEARL JAM genannten achten Album. Noch nie hat sich die Band so viel Zeit für eine Platte gelassen, trotzdem werden alle Songs erst im Studio ausgearbeitet. Diese Spontaneität hört man PEARLJAM in jeder Sekunde an, und die Bandmitglieder scheinen wieder mehr Lust am Musikmachen gefunden zu haben: Alle steuern fast gleich viel zum Songwriting bei. Vor allem Mike McCready ist fleißiger denn je zuvor, schreibt mit „Marker In The Sand“ eines der besten Stücke der Platte und für den epischen Schlusssong „Inside Job“ erstmals auch den Text. Eddie Vedder findet mit „Life Wasted“ (und dem Leierkasten-Pendant „Wasted Reprise“) einen Weg, aus erwachsener Perspektive über jugendliche Existenzängste zu singen, ohne bemüht oder besserwisserisch zu wirken. Weitere Höhepunkte sind Stone Gossards schräger Schunkler „Parachutes“ und das altmodisch romantische „Come Back“. Wenn PEARLJAM letztlich auch die Puste fehlt, um als Meisterwerk durchzugehen, ist die Platte doch die Frischzellenkur, die die Band zu diesem Zeitpunkt dringend nötig hat. Die Bedeutung der Avocado auf dem Cover bleibt indes verborgen.

BACKSPACER (2009) 3 Es gibt nicht viele Bands, die Anfang der 90er ihr Debüt veröffentlicht haben und immer noch Stadien füllen. Pearl Jam waren lange genug relevant, um das Leben einer ganzen Generation von Rockfans zu begleiten. Wer vor 18 Jahren TEN geliebt hat und der Band seitdem treu geblieben ist, wird auch über die soliden Songs auf BACK-SPACER nicht meckern. Dennoch ist es ein wenig frustrierend, wie vorhersehbar Pearl Jam auf ihrer jüngsten Platte sind. Mit Stammproduzent Brendan O’Brien zurück an Bord frönt das Quintett bevorzugt alten Mustern und Gewohnheiten. Überraschungen sucht man vergebens, aber vielleicht haben Pearl Jam und ihre Fans auch ein Alter erreicht, in dem man Konstanten mehr schätzt als Veränderung. Insofern ist der Albumtitel gut gewählt.

Alle Alben sind bei Sony erschienen, außer BACKSPACER (bei Universal)