Die Goldenen Zitronen
More Than a Feeling
Buback/Indigo (VÖ: 8.2.)
Die Goldies dringen mit düsterem Elektro-Twist in unsere Komfortzone ein. Wer sie reinlässt, muss sich unbequemen Fragen stellen, erhält aber auch ein paar Antworten.
Vor Kurzem gab es in einer Lokalzeitung in Münster einen Bericht über die steigende Anzahl von Messerangriffen, wobei der Reporter keine Zahlen der Polizei nennen konnte und stattdessen schrieb, es gebe in der Stadt ein starkes Gefühl, dass diese gestiegen sind. Liebe Grüße, aber dein Gefühl alleine reicht nicht! Die Realität des Lebens ist MORE THAN A FEELING.
Das erste Stück der neuen Platte der Goldenen Zitronen nennt weitere Beispiele für solche Kommunikationsdefizite im öffentlichen Raum, das läuft prinzipiell ja immer gleich ab: Aus einem Gefühl heraus wird eine Bestimmtheit definiert, aus welcher heraus sich dann mutmaßliche Meinungsäußerungen ergeben, die aber genau das nicht sind, sondern Vorurteile bis hin zu offenem Rassismus. So entstehen unterirdische Gedankenkomplexe; der Mensch, der so denkt, wird zur „Katakombe“: „Du siehst aus wie Katakombe, dein Look ist nicht gerade bombe. Dafür trägst du einen Fetisch, dein Gelaber super-episch.“ Der Sound dazu ist dunkel-flirrend-elektrisch, es liegt Spannung in der Luft, die Goldenen Zitronen melden sich zurück.
Gut fünf Jahre sind seit WHO’S BAD vergangen, damals gab Michael Jackson den Titel vor und die Goldies thematisierten den „Investor“ und „Europa“. Damit waren sie früh dran. Wie so oft in ihrer Karriere. Das ist Fluch und Segen zugleich, und natürlich gibt es auch bei den Hamburgern den Drang, dieses Vordenkertum dann und wann zu belegen. Das geschieht bei „Gebt doch endlich zu, euch fällt sonst nichts mehr ein“, eine bitterböse Fortsetzung von „Wenn ich ein Turnschuh wär“. Hier zeigt sich – wie später auch bei „Mauern bauen (testweise)“ – ein neuer Ansatz der Goldenen Zitronen: Gedrängt wird nicht mehr auf die Veränderung, sondern darauf, dass die Scheinheiligen sich endlich als das entlarven, was sie in Wirklichkeit sind, als Menschenverächter.
Ein neuer Ansatz und ein paar zwingende Themen
Bei „Mauern bauen (testweise)“ gelingt der Band ein textlicher Kunstgriff, Schorsch Kamerun fragt, was denn das deutsche Volk ausmache, nennt Nase, Auto, Marsch, Schwein – und deklariert den Gedanken einer zu schützenden Leitkultur so lange weiter, bis sich das deutsche Volk schließlich selbst einmauert (testweise): „Und die Autos tanzen auf den Nasen, und die Schweine tanzen zu den Märschen.“ Kamerun intoniert den Text dieses seltsam federnden Stücks mit der diebischen Freude der Hexe im Wald, die erkennt, dass ihr alle auf den Leim gehen.
Es gab ein paar zwingende Themen für eine Platte der Goldenen Zitronen im Jahr 2019: Mauern und Grenzen, klar, auch der User-Ansatz bei Unglücken jedweder Natur: „Nützliche Katastrophen“ ist ein total poppiger Song mit Oooh-la-la-la-Refrain, den jeder hören sollte, der routinemäßig auf die Palme geht und sich in dunklen Nächten angstvoll fragt, was passiert, wenn das, wogegen man ist, sich eines Tages zum Guten wendet. Denn was postet man dann?
Auch die Ereignisse rund um den G20-Gipfel in Hamburg mussten zu einem Track werden: In „Die alte Kaufmannsstadt Juli 2017“ kommentieren Ted Gaier und Schorsch Kamerun die Rollenfestspiele im urbanen Raum, erklären erst die Sachlage, dann sich selbst. Kamerun: „Welche Demo passt zu dir? Passt zu mir? Passt zu dieser Band? Was diese Band betrifft: Welcome to hell!“ Gaier: „Denn: The wealth of the few is hell to the others. Wir waren die Vorband, wir wussten, was wir taten.“
AmazonAm Ende jedoch öffnet Ted Gaier eine neue Perspektive, beschreibt ein Szenario inmitten des Trubels, in dem niemand einem Muster entsprach und etwas Wunderbares geschah: „Ein Viertel, in dem für ein paar Tage die Autos verschwunden waren, zwischen Straßensperren, Diskussionen und Partys unterschiedlichster Menschen, lustvolles Nehmen des Raumes (…) ein utopischer Moment, während ein paar Straßenzüge weiter gerade die Bilder produziert wurden, auf die tagelang hingearbeitet worden war.“ Dazu gibt es Synthie-Tuschs wie aus dem Zauberkasten von Trevor Horn – Pathos dort, wo es sinnvoll ist.
Licht im Chaos
Da ist das Licht im Chaos. Eigentlich weisen die Goldies aber lieber auf die Flecken hin, von denen wir behaupten, es gebe sie nicht. Bei „Es nervt“ erzählt LaToya Manly-Spain von der Schwarzen Feministischen Bewegung davon, wie es sich anfühlt, eine „Protagonistin eurer Schlachtengemälde“ zu sein: „Wir, das edle Objekt of your projections (…) Solange wir nicht das Falsche sagen und euch enttäuschen mit falschen Vorwürfen und Undankbarkeit.“ „Bleib bei mir“ ist – jawohl – ein Liebeslied: Schorsch Kamerun im Duett mit Sophia Kennedy, das Stück ist wirklich schön: „Bleib bei mir, ich bleib bei dir.“ Aber warum bleiben? „Ich weiß jetzt, dass du Angst hast vor Veränderung. Obwohl du gern nach Teneriffa fliegst.“ So schön kann die Liebe sein.
Aber war die nicht auch früher echter, intensiver, also: MORE THAN A FEELING? „Das war die alte BRD“ ist ein elektro-funkiger Hit zwischen Fehlfarben und Kraftwerk, die Band öffnet die Büchse der Pandora, wird nostalgisch, auf Goldies-Art: Grau-orange war sie, die BRD. Heterosexuell. Ernsthaft. Schambehaarung schamlos sichtbar, Aufkleber verraten die Gesinnung und überall Nikotinfinger… Nichts wie weg da! Aber wohin nur, wohin?
Die fünf besten Songs: 1. Bleib bei mir 2. Katakombe 3. Die alte Kaufmannsstadt Juli 2017 4. Nützliche Katastrophen 5. Das war unsere BRD
Klingt wie: Cabaret Voltaire: RED MECCA (1981) / Leben und Arbeiten: LEBEN UND ARBEITEN (1982) / Workshop: ES LIEBT DICH UND
DEINE KÖRPERLICHKEIT, EIN AUSGEFLIPPTER (2001)