Haim
Women in Music Pt. III
Polydor/Vertigo/Columbia (VÖ: 26.6.)
Glossy Pop, der aus jeder Menge Schmerz und blöden Momenten heraus entstanden ist: Das dritte Album der Haim-Schwestern ist so reich an elaborierten Klangfacetten und Storys wie eine wirklich gute Serie.
Es wird Zeit, dass sich der Begriff Binge-Listening durchsetzt. Denn nicht nur die spannenden Serien kann und will man doch am Stück wegbingen, ganz ohne Atempause – auch Alben kitzeln schon mal diesen Drang hervor. Und am Ende stellt sich ein undefinierbares Gefühl ein. Als wäre da ein Ungleichgewicht im Work-Life-Alltag, wenn nicht sogar eine Leere. Nur eine Wiederholung würde jetzt funktionieren. Also, wieder von vorne, okay?
AmazonGanz so verhält es sich auch mit dem neuen Werk von Danielle, Alana und Este Haim. Die Geschwister erzählen in 16 Songs Geschichten über die eigene Kopflosigkeit, über tiefste Tiefpunkte und die damit einhergehende Starre, die so schwer zu überwinden ist, sowie über das Vertrauen ineinander. Vergessen, das Licht auszuknipsen? Zum Glück gibt es jemanden, der für einen nachschaut. Und wie konnte man sich wieder auf diesen einen Typen einlassen, den man doch eigentlich für toxisch hielt? Aber was, wenn es sich trotzdem für einen Moment verdammt gut mit ihm anfühlt? Wo bleiben die Entschuldigungen, auf die man so sehr wartet, die jedoch nicht im großen Stil eingefordert werden sollten?
Smart, aktuell und doch zeitlos
Wie smart, aktuell und doch zeitlos: Die Zeilen auf Haims dritten Album berichten von solchen Themen, die sich im Kopf größer und größer aufzublähen drohen. Nur werden sie hier nicht mit dem Hang zum Drama aufbereitet, sondern vielmehr mithilfe von Beschreibungen der kleinen, ziemlich normalen und für jeden nachvollziehbaren Augenblicke. Die Stimmen der drei Frauen wirken dabei meditativ, entspannt oder gar aufmunternd – ganz so, als würden sie den Inhalten das Krasse nehmen wollen.
Dass die L.A.-Sisters genau wissen, wie glossy Popsongs geschrieben werden müssen, bestätigten die ebenso mühelos wirkenden Vorgängeralben SOMETHING TO TELL YOU (2017) und DAYS ARE GONE (2013). Nur jetzt scheint das Trio ordentlich in Sachen mehrdimensionaler Figurenzeichnung nachgeholt zu haben. Waren die zwei vorherigen Werke noch eher Bofrost-Niveau, fallen die drei jetzt mit frischen Arrangements und originell von ihnen aufbereiteten Delikatessen auf.
Mit jedem Track der von Haim erneut gemeinsam mit Ariel Rechtshaid und Rostam Batmanglij produzierten Platte erfährt man mehr über ihre WOMEN-IN-MUSIC-PART-III-Welt, in der sich auch mal selbst widersprochen werden kann. In der neben all der Pop-Hit-Dichte auch Raum zum Reflektieren ist. Die Hangover-Szenen wechseln sich mit den nervösen ab, um dann überzugehen in wahre Motivationsschübe. Das Album ist nicht nur ihr offizieller Part 3 in der Musikbranche, es wirkt auch wie eine Geschichte, die in drei Akten facettenreich zu Ende erzählt ist.
Bildgewaltig, wahnsinnig homogen und traurig sowie leicht in einem: Haim
Die elaborierte Instrumentierung wird wie ein weiterer Gesangspartner gehandhabt, hin und wieder übernehmen die Gitarren die Kontrolle, lassen die Songs aus dem klassischen Popgewand ausbrechen. „Up From A Dream“ ist dank der Gitarren- Bass-Kombination so lebendig und gleichzeitig voller Retro-Charme, dass es ebenso gut eine Co-Produktion mit St. Vincent sein könnte.
Als visuell-serieller Touch (na, zu viel mit Musikvideo- und „Magnolia“-Regisseur Paul Thomas Anderson abgehangen?) halten Weckergeklingel, Möwen, langgezogene Gähner und Crowd-Brabbeleien in und zwischen den Tracks alles zusammen. In Zeiten von Single-Releases und Spotify-Playlisten machen diese verbindenden Details den besonderen Wert und die Wichtigkeit eines ganzen Albums aus, das genau so und nicht anders gehört werden muss.
Bildgewaltig, wahnsinnig homogen und traurig sowie leicht in einem: Haim geben immer wieder Einblicke in depressive, isolierte Lebensphasen (zum Beispiel in „Now I’m In It“ und „I Know Alone“) und in „Summer Girl“ sogar in die Zeiten, in denen Danielle für ihren Partner den Kopf oben halten musste. Er bekam die Diagnose Krebs, während sie bei der (zum Glück gut verlaufenen) Behandlung auf Tour war. Die Schwestern haben mit dem Song dennoch einen Banger geschaffen, der mehr ist als nur etwas angehypter Pop. Sie machen das, was man aus vielen guten Serien kennt: Sie spielen sich den ganzen Scheiß vom Leib, echter musikalischer Exorzismus also.