Hercules And Love Affair :: Blue Songs
Das zweite Album der New Yorker verschiebt die Prioritäten von Disco in Richtung House.
Die meisten Bands schaffen es nie, egal wie lange ihre Karriere auch anhält. Ganz wenige bringen es vielleicht ein einziges Mal zustande: das perfekte Album, das weit über seine eigene Funktionalität hinausweist und irgendwann einmal als Synonym für einen musikalischen Jahrgang hergenommen wird. Hercules And Love Affair haben ihr perfektes Album schon gemacht. Dass es ausgerechnet ihr erstes gewesen ist, macht die weitere Arbeit für Andy Butler und seine wechselnden Begleiter nicht unbedingt einfacher.
Vor knapp drei Jahren, Im März 2008, erschien das Debütalbum Hercules And Love Affair. Es war nicht nur in sich perfekt, es war auch Höhepunkt und letztgültiges Statement für das seit fast einem Jahrzehnt latent im Untergrund vor sich hinblubbernde Disco-Revival, dessen explosionsartiger Ausbruch im Mainstream auf unbestimmte Zeit verschoben zu sein scheint. Butler und seine bunt zusammengewürfelte Truppe aus der New Yorker Gay-Künstlerszene holten mit diesem Debüt Disco und frühen House auf schwules Terrain zurück – Musik, die vor Jahrzehnten als identifikationsstiftend wirkte in der Gay Community, die gerade ihr Selbstbewusstsein entwickelte – pro Hedonismus, contra heterosexuellen Machismo, pro Tanzen, contra Luftgitarrespielen.
Das von Antony Hegarty gesungene „Blind“ vom Hercules-Debüt, ein bläsergetriebenes Pop-Gesamtkunstwerk mit funky Bassline, wurde ein Major-Clubhit, der die Ahnungslosen mit Disco versöhnte und heute noch diverse Zuckungen auf dem Tanzboden auslöst. Antony ist nicht mehr dabei auf diesem zweiten Album von Andy Butlers Projekt. Und auch sonst hat es einige Veränderungen gegeben. Sängerin Nomi fehlt in der Besetzungsliste, nur Kim Ann Foxman hat den Eintritt in die nächste Entwicklungsstufe als Mitglied von Hercules And Love Affair überlebt. Neu ist die venezolanische Performance-Künstlerin Aerea Negrot, die unlängst ihr 12-Inch-Debüt auf dem Berliner Label BPitch Control gegeben hat. Neu ist auch Shaun Wright, eine Kreuzung aus Sylvester und Rick James, den Andy Butler bei einem Liveauftritt kennengelernt hat. Mit dem Weggang vom DFA-Label haben Hercules And Love Affair auch ihren Produzenten Tim Goldsworthy verloren, Blue Songs wurde von Techno-Legende Patrick Pulsinger produziert. Sein Einfluss zeigt sich in soundspezifischen Nuancen.
War das Debütalbum von Hercules And Love Affair noch an dem historischen Punkt verortet, an dem Disco langsam zu House wurde, sind auf Blue Songs die Prioritäten in Richtung House verschoben. Bezeichnenderweise heißt der Track mit dem größten Hitpotenzial hier „My House“, eine flirrende, minimalistische House-Hymne mit dem Gesang von Shaun Wright, dessen Stimme an die von Antony Hegarty erinnert. Der Titelsong vereinigt die Ambient-Texturen Brian Enos mit der experimentellen Seite des klassischen House- und Avantgarde-Produzenten Arthur Russell. In „Step Up“ tritt Kele Okereke als Gastsänger in Erscheinung, ein Song, der wie ein milder Outtake aus Okerekes Soloalbum klingt und hier wie ein Fremdkörper wirkt. „Visitor“ mit seinen leicht technoiden Untertönen mag man dem Einfluss Patrick Pulsingers zuschreiben. Dass mancher Effekt und manche Bassline (die aus „Painted Eyes“ zum Beispiel) vom Debütalbum ausgeliehen wurden, schmälert das Vergnügen nicht. Schließlich lebten die memorabelsten Disco-Breaks auch in den klassischen House-Hymnen weiter.
Eine Ballade mit hoher Symbolkraft beendet dieses Album. „It’s Alright“, ein Song, der im Original im Jahr 1986 von Sterling Void veröffentlicht und drei Jahre später von den Pet Shop Boys popularisiert wurde. Dieser Song war immer der letzte, der bei den Partys im legendären Warehouse in Chicago gespielt wurde, dem Geburtsort der House Music. War das Debütalbum von Hercules And Love Affair Spätsiebziger-Disco, so ist Blue Songs Mittachtziger-House, nachdem er sich von Disco emanzipiert hatte. Blue Songs ist auch die Emanzipation Andy Butlers von Disco. Ein so großartiges Album wie Hercules And Love Affair, das weiß Butler selber, wird er nie mehr aufnehmen.
Story S. 38.
****** der helle Wahnsinn
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