I Am Very Far :: Jagjaguwar/Cargo
Indie Folk: Ein-zwei-drei, eins-zwei-drei, eine Band walzert in die Falle.
Walzer im Pop sind Geschmacksache. Den beschwingten und beschwingenden Dreivierteltakt liebt oder hasst man, wie das Beispiel von Calexico lehrt, die darauf (und auf Mariachi-Bläser!) ihre ganze Karriere aufgebaut haben. Aber auch im ernsthaft folkorientierten Indierock nimmt es allmählich überhand, bei zeitweiliger Ideenlosigkeit einfach alles plattzuwalzern. Klingt immer nett und tut nicht weh. Okkervil River machten um diese Falle oft einen weiten Bogen. Auch I Am Very Far beginnt mit einem straighten Schlagzeug, flirrenden Fiedeln, geschrammeltem Banjo, peitschenden Handclaps – und schon sind wir mittendrin im Kopf von Will Sheff, der dieser seltsamen Gruppe vorsteht, die sich nach einer Kurzgeschichte von Tatyana Tolstaya benannt hat. Okkervil River spielten sich spätestens mit dem melodiös verschachtelten The Stage Names ins Herz des Indie-Publikums. Der Nachfolger, The Stand Ins, handelte dann schon von der Schattenseite des Ruhms. Jetzt, mit I Am Very Far, haben Okkervil River sich kaum mehr etwas zu beweisen. Sie stehen neben Death Cab For Cutie und Modest Mouse, weniger muskulös, aber doch zu Recht. Treibende Kraft auf diesem Album ist, wie gehabt, Sheffs drängende, manchmal auch quängelnde Stimme, die ganz ausgezeichnet zu den Uptempo-Nummern passt. Wird’s leiser, wird es manchmal auch ein wenig weinerlich, aber leiser wird es hier selten: Der Wille zum Pop ist überall spürbar. Viel Hall und Dynamik von leise zu laut, vom gezupften Banjo zur irritierend hektisch geschrammelten E-Gitarre, euphorisch sich schlängelnde Harmonien. Marschiert der Rhythmus geradlinig voran, kann man sich der Streicher wegen sogar an ELO erinnert fühlen. „White Shadow Waltz“, übrigens walzerfrei, erinnert in seinem fiebrigen Pulsieren eher an Arcade Fire, ohne deren Macht zu erreichen oder auch nur anzuvisieren. Okkervil River gehen filigraner zur Sache – selbst dann, wenn doch noch der Walzer kommt: „Hanging From A Hit“ wogt intim hin und her, bevor ein Chor ins Spiel kommt und alles mitreißt. Kurz danach der nächste Walzer, diesmal in rasender Geschwindigkeit: „Wake And Be Fine“ will nicht nur Pop, sondern auch ein Hit sein. Versöhnlich wirkt „The Rise“ mit seinen Rhythmuswechseln, den Streicherschlieren, dem lautmalerischen Pianoperlen und dieser traurigen Melodie, die am Ende so hübsch orchestral ausfranst, wie I Am Very Far insgesamt immer wieder in seine Einzelteile zu zerfallen scheint. Ein schönes Album, doch. Aber noch immer nicht das, wozu diese Band fähig wäre.
Arno Frank
Story S. 16
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