Wer war gleich noch mal Carlos D.? Sein Fehlen fällt keine Sekunde ins Gewicht auf dem fünften Album der mächtigen Indierock-Raben. Obwohl es genau dort weitermacht, wo Mister D. und die anderen drei als Quartett noch vor Kraft strotzten.

Erinnern Sie sich? Kaum eine Fußnote zu Interpol, die zu Zeiten ihres 2002er-Debüts TURN ON THE BRIGHT LIGHTS publiziert wurde, kam ohne einen dick unterstrichenen Verweis auf Joy Division aus. Und auch zwei Jahre später, als ihr Sound auf ANTICS kompakter, griffiger wurde, ihr Songwriting sich mehr Richtung Pop orientierte (und allen klar war, dass ihr Existenzialismus nicht wirklich an die Existenz geht), musste man sich noch dahingehend rückversichern: Interpol waren eindeutig Epigonen. Allerdings so ziemlich die besten Epigonen unter all den Postpostpunkern, die damals wie Kartoffelboviste überall aus dem Boden schossen.

Heute hat man zwar Joy Division nicht vergessen – wie könnte man? –, aber Paul Banks’ pastorale Ian-Curtis-Gedächtnis-Vocals sind längst zu einer eigenen Marke geworden. Und die stilistische Verbindung (bis hin zu Image und Verpackung) mit den nordenglischen Göttern der Untröstlichkeit nimmt man kaum mehr wahr. Die Beharrlichkeit der New Yorker hat sich ausgezahlt. Und sie nötigt einem Respekt ab. Weil: Es war ganz bestimmt schon mal einfacher im Lauf der Popgeschichte, einen Platz und einen Sound so eindeutig für sich zu besetzen, als in den letzten zehn Jahren.

Noch viel mehr darf einem aber imponieren, wie es Interpol über ihre Zeit geschafft haben, immer wieder neue Facetten zum Funkeln bringen bei ihrer Schunkelrunde rund um ihren im Halbdunkel liegenden Hausaltar. Es liegt in der Natur der Sache, dass man den Kritikern der Band damit nicht zu kommen braucht: Menschen, die keine Erdbeeren mögen, lassen sich kein noch so appetitlich aufgemachtes „100 raffinierte Erdbeer-Variationen“-Büchlein andrehen.

Kommen wir also zu den neuesten Facetten, obwohl das augenscheinlichste Merkmal des fünften Interpol-Albums wohl mehr ist als das: EL PINTOR  ist die ausgemachte Gitarren-Platte der Gitarren-vor-mächtigen-Soundkulissen-Band Interpol, weil sie neben Daniel Kesslers durchweg sehr prägnanten Riffs geprägt wird von einer unermüdlichen, stellenweise regelrecht formulierungswütigen, ja exzentrischen („Same Town, New Story“) Leadgitarre, wie wir das von Televisions Meisterwerk Marquee Moon kennen. Als müsste sie Paul Banks, der einmal mehr eher vage und mysteriös von düsteren Zuständen der Vereinsamung, Bedrängnis und des Vertrauensverlustes dröhnt, zur Seite stehen, ihn beweinen, jedes dunkle Gefühl für ein paar geflügelte Noten nachhalten.

Außerdem ist EL PINTOR eine Platte, die man nach dem vergleichsweise experimentellen und etwas unausgegorenen Vorgänger INTERPOL (2010) allgemein als „Rückkehr zur alten Form“ begrüßen wird. Heißt: Sie wirkt ge- und entschlossener, Interpol brausen hier auch wieder richtig auf. Gleich auf dem packenden Opener, dem vorab veröffentlichten „All The Rage Back Home“, kräht der Raben-Chor „Hey-hey-hey!“, damit ja kein Zweifel an seiner Entschlossenheit aufkommt. Aber auch im gebremsten Tempo und in etwas luftigeren Arrangements zeigt das Passion-o-meter durchweg auf „dolle!“.  Sollten wir eigentlich noch erwähnen, dass auf EL PINTOR Gastmusiker unter anderem von den Secret Machines und Bon Iver zu hören sind? Also, irgendwo … da drin? Allerdings: wozu? Sie werden ohnehin einfach mit herumgewirbelt, sobald die wilde Fahrt beginnt. Führt dieses „Interpol“ vielleicht sogar eine Art Eigenleben, unabhängig davon, wer da gerade mittut? Oder wie ist es sonst zu erklären, dass der Verlust eines Carlos D., immerhin zwölf Jahre Bassist und Co-Songwriter dieser Band, auf EL PINTOR keine Sekunde ins Gewicht fällt? Irgendwie unheimlich.