Kate Tempest
Everybody Down
Big Dada/Ninja Tune/Rough Trade
Geniestreich! Die britische Wortstromkünstlerin erzählt im Duktus von HipHop und Elektronik.
Pünktchen-Bluse, Herz-Amulett, sanft gelocktes Haar und dann dieser verträumte Blick. Nein, das Mädchen auf dem Cover von EVERYBODY DOWN ist nicht etwa einem Screenshot aus Peter Weirs Filmklassiker „Picknick am Valentinstag“ entnommen, einer sanft gruselnden Mystery-Tour ins australische Outback, wo drei Internatsschülerinnen und eine Lehrerin ohne jede Erklärung verschwinden.
Das Mädchen heißt Kate Tempest, stammt aus Brockley im Süden Londons, sie hat die Schule geschmissen und die Gedanken und die Worte, die ihr durch den Kopf zogen, in Bussen und auf Straßen zirkulieren lassen, da soll sie gerade mal 16 Jahre alt gewesen sein. Sie schreibt für die Royal Shakespeare Company und gibt Workshops in Schulen, sie ist Autorin, Spoken-Word-Künstlerin und Dramaturgin. Jeder Track ihres Albums bezieht sich auf ein Kapitel ihres kommenden Romans und zusammen erzählen diese Tracks eine Geschichte. Es ist auch die Geschichte einer inzwischen 27-Jährigen, die eine Form der Performance gefunden hat, in der Wort, Sound und Beat wie selbstverständlich zusammenfallen.
Die Lyrics zum Album werden Dutzende von Seiten eines CD-Booklets füllen und wenn Kate Tempest uns auf ihre Reise in die Clubs und Bars mitnimmt, zischen die Worte auf ratternden Rhythmen an uns vorbei und wir können nur erahnen, welche Welten sich ihrer Protagonistin Becky da auftun, die Musik ist der erste Storyteller hier. Es gibt einen „Refrain“, der sich immer wieder auf dem Album zurückmeldet und wie ein Hämmerchen auf der Klaviatur des Konstruktivismus funktioniert, er erinnert daran, dass alles, was ist, unseren eigenen machtvollen Bilderwelten entstammt: „It’s true if you believe it. The world is the world. But it’s all how you see it. One man’s flash of lightning ripping through the air, is another’s passing glare, hardly there“.
Die Bilder, die uns ein Album-Cover schenken, erzählen am Ende doch nur etwas über uns als Betrachter. Die Künstlerin als Artefakt in der Welt der Kunstkritik? Kate Tempest spielt ihre wunderbare Wortkunst in einem Endlos-Stream aus: Die grandiose Langeweile, die Angst, die am Leben frisst, der Ruf nach Zusammenhalt und ein Flashback – hat HipHop nicht einmal so begonnen? EVERYBODY DOWN ist durchaus ein HipHop-Album geworden, doch die Beats haben ein Two-Step-Tempo erhalten und die elektronischen Ober- und Untertöne, das Sirren und Dröhnen, das Produzent Dan Carey (M.I.A., Hot Chip) in Tempests Wortstrom geschoben hat, verleihen diesem „Buch“ eine außerordentliche Dringlichkeit.
„Wow“, so wird Chuck D im Empfehlungsschreiben der Plattenfirma Big Dada zitiert. EVERYBODY DOWN ist auch als Aufruf zur Selbstermächtigung zu lesen, in Kate Tempests Worten: „The gods are all here because the gods are in us“. Mike Skinners Streets-Debüt von 2002 besaß eine ähnliche Präsenz und Kraft, Kate Tempest und EVERYBODY DOWN werden uns dieses Jahr nicht mehr loslassen.