Kolossale Jugend

HEILE HEILE BOCHES / LEOPARD II / FUNDSTÜCKE

Tapete/Indigo (VÖ. 3.11.)

„Bessere Zeiten klingt gut“ ist einer der Slogans, mit dem sie Shirts, Hauswände, Mixtapes oder Compilations bestücken.

„Der Text ist meine Party“: fast alles der großen Hamburger Indie-Rock-Band. Mainzer Fastnacht im Jahr 1952, der Krieg ist seit sieben Jahren vorbei, die zerstörte Stadt wird tapfer neu errichtet. Der Karnevalist Ernst Neger (sic!) singt das alte Wird-schon-wieder-gut Liedchen „Heile Heile Gänsje“, mit zwei neuen Strophen, die davon handeln, dass auch Mainz eines Tages geheilt werden möge: „Ich bau dich widder auf geschwind! Ja, du warst doch gar net schuld.“ Meenz ist also „net schuld“.

Ruhe, Ruhe, kein Ringen: Jan Müllers Nachruf auf Musiker Kristof Schreuf

Die Menschen dort vielleicht aber schon. Die Stimmungslage in der jungen BRD als Mischung aus dringend gebotener, aber total unbequemer Entnazifizierung und „Wir-waren-net-schuld“-Kult fördert Anfang der Fünfzigerjahre diese westdeutsche „Heile Heile“-Kultur – es wird schon alles wieder. Und, nein, nach rechts und links schauen müssen’se erst mal net. Was wohl die Menschen in Metz dazu sagen, 200 Kilometer südwestlich von Mainz? Die Stadt erlebt 1944 „la Bataille de Metz“: SS-Truppen und Ausbildungsdivisionen der Wehrmacht verschanzen sich in einer Festungsanlage, fast ein halbes Jahr dauert das Gemetzel, es gibt Tausende Opfer auf beiden Seiten.

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Und dann starten die Deutschen eine unsinnige Ardennenoffensive. 40000 Gefallene. „Heile Heile…“ „Boches“ sagt man in Frankreich zu den Deutschen, wenn man wenig vorteilhaft von ihnen spricht, abgeleitet von Holzköpfen. HEILE HEILE BOCHES nennen Kolossale Jugend ihr Debütalbum aus dem Jahr 1989, es ist der theoretisch-poetische Versuch der Hamburger Band um Kristof Schreuf, der „Heile Heile“ Narretei eine Form von Rockmusik in deutscher Sprache entgegenzusetzen – der Sprache also, die auch in der Festung von Metz gesprochen wurde.

Ein hoher Anspruch, doch der Spaß kommt nicht zu kurz

Das ist ein hoher Anspruch, doch der Spaß kommt nicht zu kurz: „Der Text ist meine Party“ heißt es im Stück „Party“, neben „Bessere Zeiten klingt gut“ einer der Slogans, mit denen Schreuf, Pascal Fuhlbrügge, Klaus Meinhardt und Christoph Leich Shirts, Hauswände, Mixtapes oder Compilations bestücken – und bald auch ein Buch: Am 1. März erscheint im Ventil-Verlag „Der Text ist meine Party: Eine Geschichte der Hamburger Schule“.

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Diese Geschichte ist auch Gegenwart, denn der Umgang mit Deutschland ist im Jahr 2023 genauso komplex wie zwischen 1988 und 1991, dem Korridor, in dem die Kolossale Jugend wirkt. Das Tapete-Label packt nun fast alle Aufnahmen der Band in eine Vinyl-Box: HEILE HEILE BOCHES sowie die kaum weniger furiose zweite Platte LEOPARD II (Aktualitätsbezug, Baby!), dazu FUNDSTÜCKE wie die Tracks der ersten Single „Kein Schulterklopfen“ von 1988 sowie einen Live-Mitschnitt aus dem zentralen Club der Hamburger Szene abseits der Hansestadt, dem „Forum“ im ostwestfälischen Enger. Das Reissue ist Kristof gewidmet, der am 9. November 2022 verstirbt und vermisst wird, als Diskurspartner, Musiker, Mensch.