Shamir
Heterosexuality
Shamir (VÖ: 11.2.)
Wunderbar wahnsinnig oder wahnsinnig wunderbar? Pop, der alle Grenzen sprengt.
Brauchen wir 2022 wirklich noch ein weiteres Album über Heterosexualität? Ja, denkt sich Shamir mit HETEROSEXUALITY, aber fährt freilich (wie schon der Trap-Beatballernde Drama-Streicher-Opener verrät) seine „Gay Agenda“, wobei die Platte konsequent inkonsequent zwischen empowerndem Übermut und existenziellen Selbstzweifeln schillert, wie schon die erste Metapher der Platte andeutet: „Broke up with the dragon, but he’s chasing me.“
Dieser Drache könnte ja vielleicht die heteronormative Sicht der Dinge und insbesondere der ihr verdächtig queeren Subjekte sein. „I’m not cisgender / I’m not binary trans“, singt Shamir mit ultra-androgyner Stimme im nahtlos anschließenden zweiten Track „Cisgender“. Und: „I don’t wanna be a girl, I don’t wanna be a man!“ Bei jedem Refrain entfacht der Gesang noch mehr Wucht, wobei Shamirs Refrains auf dieser Platte (trotz Indie-Produktion) ohnehin Beyoncé’sches Hot-Potenzial entfalten.
Insgesamt ein wunderbar wahnsinniges Sound-Statement einer der spannendsten Menschen im Pop
Teilweise verstört die aggressive Wortwahl, offenbar an HipHop-Punchlines geschult, aber ins Queere gedreht („Abomination“) – und das soll sie sicherlich; hat Shamir als queere PoC ohnehin genug, worüber er sich empören kann und muss – mitunter sehr persönlich, wie das als Gitarrenballade beginnende „Father“ über den Vater, der ihn zurückließ. „Cold Brew“ atmet 80ies-Luft.
Wer Shamir hauptsächlich seines Las-Vegas-Disco-Debüts RATCHET (2015) wegen kennt und liebt, wird überrascht sein, was für eine noch viel größere Klangpalette er sich im Lauf der letzten Jahren erobert hat. Gleich geblieben hingegen ist diese einmalig eindringliche Stimme, bei der man immer glaubt, dass das Erzählte exakt so gemeint ist. Insgesamt ein wunderbar wahnsinniges und wahnsinnig wunderbares Sound-Statement einer der spannendsten Menschen im Pop der letzten Jahre.