Talking Heads
STOP MAKING SENSE
Rhino/Warner (VÖ: 18.8.)
Konzept-Pop: Die Deluxe-Ausgabe in mehreren Versionen zum 40. Geburtstag des Konzertfilm-Soundtracks (gab es überhaupt einen besseren in den letzten 50 Jahren?).
David Byrne meldet ein Erfolgserlebnis bei der Textilreinigung seines Vertrauens. Dort taucht jetzt der silbergraue Oversize-Businessanzug auf, den der Talking-Heads-Chef im Dezember 1983 im Pantages Theatre in Los Angeles zu tragen pflegte, wo die Aufnahmen für STOP MAKING SENSE stattfanden. „It’s been here for a while“, sagt Byrne zu Beginn an der Kasse, während er die Quittung vorlegt. Welch Glück, das gesuchte Kleidungsstück hängt an der Schiene, und der Anzug passt noch, wenn man das von dem unförmigen Textil im XL-Eighties-Look jemals behaupten durfte. In der nächsten Szene wiegt und biegt sich Byrne im Anzug vor dem Spiegel, mit den Moves, die untrennbar mit den historischen Auftritten verbunden sind.
AmazonDer Kurzfilm ist jetzt als Trailer vor der Deluxe-Wiederveröffentlichung von STOP MAKING SENSE zu sehen, ein launiges Intro zu einer, so ein weitreichender Konsens, der größten Live-Platten und -Filme der letzten 50 Jahre. Und die Musik? Wurde sie jetzt etwa auch frisch gereinigt? Der Geist schweige, der Körper komme – STOP MAKING SENSE. In diesen drei Worten steckte wieder ein Stückchen Konzeptkunst, das die Intelligenzija aus dem Punk-Umfeld des New Yorker CBGB’s für ihre Pop-Produktionen reklamierte.
Parodie und Bodytalk
Die Talking Heads inszenierten sich für den Film und das dazugehörige Album als hochreflektierte Antitypen, sie verpfiffen Jugendkult und Rock’n’Roll-Herrlichkeit an ein Publikum, das die ersten drei Punkrockschritte mit ihnen schon gegangen war und nun auf „Burning Down The House“ tanzte. Parodie und Bodytalk. Die Fans folgten den Talking Heads in Klangräume, die sie vorgestern noch nicht kannten. Los Angeles, Ende 1983: Ein „ordinary guy“ in diesen lächerlich großen Klamotten betritt damals die Pantages-Bühne. Rockstars sahen bis dato jedenfalls anders aus.
Es sollte eine ikonische Szene werden, denn statt einer Band hat David Byrne einen Kassettenrekorder mitgebracht. Er drückt die „Play“-Taste, jetzt ist der Beat da, der ihn und das Publikum zu „Psycho Killer“ führt, Byrne singt von diesem nervösen Überdrehtsein, pflegt die Punk-Psychosomatik („I can’t sleep ’cause my bed’s on free / Don’t touch me, I’m a real live wire“) und begleitet sich dabei auf der akustischen Gitarre. Was den Song an den Beginn einer Story stellt, mehr David Byrne, weniger Punk-Power. Ein schlauer Schachzug.
Mit jedem Song werden neue Bandmitglieder der Story hinzugefügt, erst Tina Weymouth (Bass) in „Heaven“, später Chris Franz (Drums) in „Thank You For Sending Me An Angel“, das Talking-Heads-Puzzle wird mit Keyboarder Jerry Harrison bald komplettiert. Die Unterschiede zwischen der Originalveröffentlichung 1984 (neun Songs), der Reissue von 1999 (16 Songs) und der aktuell remasterten Ausgabe (18 Songs) liegen in den Details, „Psycho Killer“ steigt 2023 mit Applaus und Beats direkt kräftig ein, Byrnes kurze Ansage fehlt. Insgesamt klingt die Neuausgabe etwas runder, aber ist das ein Gewinn?
Eine cineastische Ode an die Band, ihr Werk und ihr Come Together auf der Bühne
Die hier vorliegende Deluxe-Version des Soundtracks enthält, und jetzt wird’s spannend, zum ersten Mal das komplette STOP-MAKING-SENSE-Konzert, darunter zwei bisher auf Tonträger unveröffentlichte Live-Takes, „Cities“ und „Big Business/I Zimbra“ – das Ganze als Doppel-LP und digital in einem Dolby-Mix, an dem auch Jerry Harrison beteiligt war. Dazu kommt ein 28-seitiges Booklet mit bisher unveröffentlichten Fotos und neuen Liner Notes von allen vier Bandmitgliedern.
Dieses Live-Album (nicht das erste der Talking Heads, THE NAME OF THIS BAND IS… mit Konzert-Aufnahmen von ’77 bis ’81 ging tief in die Magengrube), so stellte David Byrne fest, habe viele Leute erst mit den Talking Heads bekannt gemacht. Man wird die Musik aber einfach nicht vom Konzert-Film trennen können, in dem es ironischerweise gar kein Publikum gibt, so sehr treiben Bilder und Musik in einem gemeinsamen Flow die Geschichte dieser damals neuen, von Funk und Afrobeats informierten Popmusik von dem nervösen jungen Mann und seiner Band fort.
Eine cineastische Ode an die Band, ihr Werk und ihr Come Together auf der Bühne, ohne Backstage-Bilder, ohne Interviews, Musik nonstop, Spielfreude, Spitzengrooves. Der Film setzt die Beziehung von Filmemacher Jonathan Demme zu seinem Objekt so intensiv wie detailverliebt in Szene. Er kommt in einer frisch restaurierten 4K-Version in diesem Jahr auch noch in die Kinos. Darauf dürfen wir uns mindestens so sehr freuen wie David Byrne auf den Anzug aus der Reinigung.