Tocotronic

Tocotronic („Das rote Album“)

Vertigo Berlin/Universal 1.05.2015

Auf ihrem elften Album lassen Deutschlands alte, weise Prinzen des Indie-Rock die Jugendparolen in weiter Ferne verhallen und singen verwunschen schöne Liebeslieder.

Alles beginnt an einem Morgen in der Fremde. An einem dieser Außenräume der Realität, dunstig und zeitlos, wie sie in der deutschen Popmusik niemand so verinnerlicht hat wie der Verästelungskünstler Dirk von Lowtzow. Mit den ersten Zeilen, die er uns im Eröffnungsstück „Prolog“ entgegenraunt, erwachen wir wie aus einem Traum im Traum: zwischen Muscheln und Papier in einer „ toten Küstenstadt“. Und sofort sind wir mittendrin in der Gedankenwelt dieses „roten“ Albums. „Du zitterst noch und hörst in dich hinein. Was könnte das Ereignis sein?“, singt von Lowtzow. Die so einfache wie große Antwort auf diese Eröffnungsfrage: „Liebe wird das Ereignis sein.“

Und genau darum geht es dann: um Liebe und Erinnerung, um jugendliches Chaos und Träumereien, Selbsterkenntnis und Sanftmut. Weiter als je zuvor haben sich die vier Hamburger vom Diskurspop, vom Dagegensein ihrer angry young men-Jahre entfernt. Weiter noch als schon mit dem Vorgänger WIE WIR LEBEN WOLLEN. Hier standen die Fragen zur Gegenwart trotz sanfter Wehmut und Selbstaufgabe immer noch drängend in den Song-Räumen. Diesmal begegnen uns die alten Slogans für die Jugendbewegung – wenn überhaupt – nur noch als vage Spiegelungen aus einer fernen Welt: „Ich werde nicht gebraucht. Die Zukunft gibt es nicht“, hallt in „Rebel Boy“ eine Punkparole nach. No Future. Immer noch. Auch in der fernen Geisterlandschaft von „ Prolog“ spürt man die „Gifte im System“ noch, will aber eigentlich „ nur den Abend überstehen“ oder, wie in „Chaos“, am liebsten gleich, „gehetzt von Geistern und Ideen“ unter die Bettdecke der Liebsten fliehen. Zitierfähig bleiben Tocotronic-Zeilen dennoch: „Bitte nicht wecken. Damit ich leben kann.“ Vielleicht lässt sich der ganze Wahnsinn der Welt so am besten aushalten: im schwerelosen Halbschlaf und umgeben von verwaschenen, flackernden Tocotronic-Gitarren.

Tocotronics Neue klingt wie die Erinnerung an eine alte verflossene Liebe

Tatsächlich hat man auch beim Hören der neuen Stücke wieder das seltsame, weil seltene Gefühl, dass die Musik dieser Band mit jeder Platte noch besser wird: opulenter geschichtet, raffinierter und stimmungsvoller. Jede Gitarrenmelodie, jedes Geigensäuseln, jeder Refrain scheint zu schweben. Oder zu schwimmen. Im schwelgerischen Liebeslied „Spiralen“ drehen die Melodien Schleifen. In „ Solidarität“ schaukeln Streicher im Takt mit federndem Schlagzeug. In „Zucker“ werden die Fuzz-Gitarren bis auf Theremin-Höhen hinaufgejagt. Immer aber klingt alles sanft, beinahe lichtdurchlässig. Das Schöne an dieser Platte aber ist seine nebulöse Wärme – ein zartes, wohliges Gefühl. Es ist eine spukhafte Wärme, so lieblich und unwägbar wie die Erinnerung an eine alte verflossene Liebe. Man kann sie nicht greifen, nur spüren. Genau wie die Orte, an denen sich die Lieder ausbreiten – punktgenau auf der Schwelle zwischen Surrealismus und Realität.

Am deutlichsten wird das vielleicht im Hidden Track, der langsam seinen Zauber mit Naturgeräuschen ausbreitet, mit Vogelgezwitscher und plätschernden Bächlein. Bis uns von Lowtzow in sehnsüchtigen Zeilen von einem halb traum-, halb wahnhaften Date mit sich selbst berichtet: „Ich hab ein Date mit Dirk am ersten Frühlingstag.“ Wie in einer spiegelverkehrten Welt streift er mit sich selbst durch die Wälder. Bis sich unterm Idyll etwas anderes, etwas Dunkleres hervorschiebt: „Auf seinem Kopf tanzen Schlangen und Plasma wächst aus Dirks Hand.“ Der süße Phantomschmerz, den dieses Ich-Rendezvous hinterlässt – er hält hoffentlich bis zur nächsten Platte an. 

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