Tokio Hotel
Kings Of Suburbia
Universal
Aus dem Nichts erscheint ein neues Album der aufwendig frisierten Synthie-Rocker – und genau dahin wird es auch zurückkehren.
Das letzte Album der Magdeburger Cyborgs, HUMANOID, kam 2009 mit großem PR-Getöse auf den Weltmarkt, stürzte nach einer Woche auf Platz eins in Deutschland auf die 25 ab, kaum ein Konzert der Zubehör-Tour war ausverkauft. Nach der Leadsingle „Automatisch“ erreichte keine der weiteren Auskopplungen die Charts. Gleiches Schicksal ereilte das zum Weihnachtsgeschäft 2010 panisch nachgeschobene BEST OF. Die Band zog sich zurück, die anführenden Kaulitz-Brüder nach Los Angeles. Die öffentliche Aufmerksamkeit sei zu groß geworden.
Doch das Gegenteil war der Fall. Woran lag’s? Wie konnte die größte deutsche Band seit mindestens Rammstein, die weltweit Top Tens erreichte, 2008 bei den MTV VMAs als „Best New Artist“ ausgezeichnet wurde und für die jüdische Jugendliche in Israel Deutschkurse belegten, um ihre Texte im Original verstehen zu können, ja, wie konnte die so abrupt und so tief abstürzen? Antwort: Die magische Vier-Jahres-Grenze war überschritten, die Haltbarkeit einer nur für Teenies interessanten Band abgelaufen. Wham!, NKOTB, Spice Girls, Backstreet Boys – niemand war im fünften Jahr noch relevant. Das Publikum wird 13, 14 und beginnt, sich mit ernsthafter Musik zu beschäftigen. Für Nachgeborene steht schon das nächste Produkt bereit. Nach einem kurzen Gastspiel der Kaulitz-Twins als „DSDS“-Juroren und den im Popgeschäft obligatorischen Gerüchten um eine Drogensucht des Sängers wagen Tokio Hotel nun das Comeback mit Album Nummer vier. Es ist ihr erstes, das nur in englischer Sprache erscheint. „The time is now“, skandiert Bill Kaulitz mit stark autogetunter Stimme im Opener „Feel It All“. „Jetzt ist uns’re Zeit“, sang er schon vor neun Jahren. Damals hatte er recht. Heute klingt es wie eine kühne Behauptung.
Tokio Hotel haben ihren Sound sanft der Zeit angepasst: Es sind noch weniger Rockgitarren als zuletzt zu hören. Dafür gibt’s hier Chillwave-Plätschereien („Love Who Loves You Back“), dort Dubstep-Anwandlungen („Stormy Weather“) und im Titelstück die „Oh-hou“-Chöre, ohne die heute kein Hit mehr auskommen darf. Im Grunde ist es aber ein weiteres Album einer Band, deren Musik stets nur Vehikel dafür war, ein Phänomen auf- und auszubauen. Eine deutsche Band, die nun wirklich alles andere als kreuzbieder auftritt und einem jungen Publikum auf Orientierungssuche in einem Update zu Bowie zeigte, dass es vollkommen normal ist, wenn ein Mann wie eine Frau oder ein Außerirdischer aussieht, das sind die wahren Verdienste von Tokio Hotel. „Durch den Monsun“ wird in dem Feld Spuren hinterlassen, das mit den Hits der Kelly Family gedüngt wird. KINGS OF SUBURBIA kann daran nichts ändern. Und der penetrante Refrain „Girl got a gun, girl got a gun, gun, gun. Girl got a gun, girl got a gun, bang, bang“ eines Songs, der von einer „dirty bitch“ erzählt, nervt schon, bevor er gefühlt unendlich wiederholt wird. „Dead all the glory we had, it’s over, it’s over“ (Tokio Hotel: „Invaded“).