Revolte in Udopia


Nun schreitet er stramm auf die 40 zu – und weigert sich standhaft, älter zu werden. Mit seiner Schnodder-Schnauze hat es der „Vorsitzende der flexiblen Betriebe‘ immer verstanden, auch jüngste Fans bei der Stange zu halten. Diesseits von Pankow gibt es wohl keinen Lieder-Schmied, der die Sprache der Straße so spontan aufzugreifen und so geschickt umzusetzen versteht. Unbefriedigende Plattenumsätze legen nun allerdings die Vermutung nahe, daß es kriselt im Lande Udopia. „Spricht Udos Zunge noch für Junge?“, fragten wir einige „Betroffene“ – und baten Udo um eine Stellungnahme.

Er läßt kein Medium aus. Durch die Veröffentlichung der LP Sündenknall verstärkt, erleben wir in diesen Tagen mal wieder den „totalen Udo“. Ob in Talkshows, bei Wahlkampfparties oder als Dauergast in Funk und Fernsehen – Lindenberg gilt noch immer als der Repräsentant bundesdeutscher Szenekultur. Auch wenn er das stets von sich weist und erklärterweise keine „messiasmäßige“ Rolle spielen will, ist er längst als Handlungsreisender in Sachen „Rock n‘ Roll und Rebellion“ zum fürsprechenden Markenzeichen avanciert.

Inmitten der unaufhörlich auseinanderdriftenden Stile und Szenen steht Lindenberg nach 20jähriger Musikerlaufbahn nun wieder einmal vor einer neuen Generation. Für den Nachwuchs spielen die musikalischen und politischen Gründerjahre keine Rolle mehr- „Star Club“ und „APO“ – diese Begriffe sind hier längst reif fürs Museum. Wird Udo, der stramm auf die 40 marschiert, von der Jugend, der er so fleißig aufs Maul schaut, überhaupt noch akzeptiert?

Sicher, clever und trickreich hat er jahrelang am eigenen Mythos gestrickt, sich als Trend-Scout immer in Zusammenhang mit angesagten Tendenzen gebracht. Seine Art, sich selbst zu verkaufen, ist unnachahmlich. Selbst Jim Rakete resümiert da anerkennend: „Es gibt momentan in Deutschland keinen, der so ein raffiniertes Management wie Udo betreibt.“

Richtig. Nie läßt er etwas anbrennen. Da steigt er zum „Bettgeflüster“ mit einer Cosmopolitan-Redakteurin-ins Bett, um ihr zu Protokoll zu geben: „Ich liebe mich ja selber auch. Onanie, Onanie, stärkt das Hemd und schwächt die Knie.“ Auf Einladung der BILD läßt sich Udo zum Tee bei Loki Schmidt bitten – exklusiv grinsen beide

darauf von Seite Drei den BILD-Lesern entgegen. Oder aber er trifft sich zum Friedenspalaver mit Richard von Weizsäcker. Wann immer Musikerinitiativen, Hausbesetzer oder grün-alternative Vereinigungen einen prominenten Fürsprecher benötigen, ist „Uns Udo“ dabei.

Sicher ist: Wenn es ihn nicht gäbe, müßte man ihn erfinden. Denn eine Rotation ist bislang ausgeschlossen, ein Nachrükker nicht in Sicht. Wer würde schon auf die Idee kommen, ein „Liebeslied für Erich Honecker“ zu verfassen, um daraufhin eine „Jodel-Lizenz für den Arbeiterund-Bauernstaat“ zu beantragen? Und wer würde schon seine Berlin-Impressionen so auf den Reim bringen? (Auszug aus einem bisher unveröffentlichten Song über einen Grenzbewohner): „Oh du, mein süßer kleiner Vopo, mit deinem süßen kleinen Popo, ich liebe dich ja soso..“

Udo heute ist eine Institution, die dank seines Bankkontos nicht mehr viel erschüttern kann. „Kohle ist längst nicht mehr meine Motivation. Ganz am Anfang, da hab ich auch mal gesagt: .Wenn ich ne Million hab, hör ich auf.‘ Aber durch meine Popularität hab‘ ich auch ’ne gewisse Verpflichtung weiterzumachen. Und zwar nicht für mein Konto, sondern für eine oppositionelle Bewegung, für viele Leute, die nicht die Möglichkeit haben, ihre Ideen in den Medien zu äußern. „

Doch zurück zum Ausgangspunkt. Wie sieht Udo sich und sein heutiges Publikum eigentlich?

„Ich steh da nicht drauf, ständig so als Liedermacher mit dem langen Gesicht rumzulaufen und den Leuten nur das zu erzählen, was mittlerweilen jeder weiß: daß die Wälder sterben, daß die Raketen weg müssen, daß hier alles irgendwie schief läuft. Deshalb versuche ich immer neue Mitteilungsformen zu finden, z. B. Satire. Das bringt mehr als diese ganzen Mißstände aufzuzählen. Ich mache Lieder für die noch Uninteressierten, oder für die, die schon wieder ausgestiegen sind. Über unverbrauchte Stilmittel will ich solche Leute zumindest ein bißchen interessiert halten oder für eine Gegenbewegung motivieren. Das ist eine ziemlich breite Form der Öffentlichkeitsarbeit, die vom Publikum eben registriert, gut gefunden und mitgetragen wird.“

Kein Wunder, daß bei soviel Unbescheidenheit auch einige längst den Kanal voll haben, ihnen der allgegenwärtige Udo langsam etwas zu viel wird. Also noch einmal die Frage, wie Udo sein heutiges Publikum beschreiben würde?

„Da finden sich bei mir mittlerweilen zwei Generationen ein, ganz junge und auch ältere. Auch wenn jetzt wieder einige auf anglo-amerikanische Musik zurückschwenken, ist das Interesse und ich steh‘ da ja nicht alleine an den BAPs, Maahns und Lages doch inzwischen sehr groß. Ich finde es auch erfreulich, daß heute viel mehr Künstler dieses Level repräsentieren: ich hoffe, daß die sich langfristig (der Maurenbrecher gehört übrigens auch dazu) alle etablieren können. Ich fürchte aber, daß die Tendenz zu mehr Eigenständigkeit durch diese Rückwende zum englischen und amerikanischen Chartprogramm geschwächt wird. Jedenfalls seh‘ ich da bei den anderen deutschen Kollegen keine Konkurrenz – das kann sich alles ganz prima ergänzen. „

Kumpel Udo von den Flexibel-Betrieben. Ohne Panik denkt er vor in allen Gassen. Auch über unvermeidliche Alterungsprozesse…

„Wir sind die ersten Rocker, die mit dieser Musik alt werden. So wie heute schon die Opis irgendwelchen Jazz spielen, so werden wir als graue Panther diese Musik immer noch machen. Die Zeiten sind vorbei, daß man mit 30 Jahren abtreten oder zwecks Legenden-Absicherung mit ’nem schnellen Auto irgendwogegen krachen muß. Einige der bedeutendsten Musiker aus unserer Abteilung .Rockmusik‘ sind doch heute schon zwischen 40 und 50.“

Doch stutzig wird man trotzdem, wenn man die kaum verschlüsselte Kontaktanzeige in Form des Songs „Frau Lindi“ liest und hört. Udo an Heim und Herd mit Frau und Kind?

„Es flattern jetzt die ersten Offerten ins Büro. Das wird alles sorgfältig und mit Wohlwollen überprüft, all diese überaus reizvollen Angebote, die ich kaum ablehnen kann …Es ist wirklich so: Ich bin im Moment auf Brautschau. Nicht unbedingt heiraten, aber zwei Lindenzwerge möchte ich jetzt doch mal irgendwie herstellen.“

Das Ende seines rastlosen Lebens? Vorbei der Milieu-Blues, den er am Anfang seiner Karriere noch so formulierte:

„Meine Welt, das sind die Bühnen und eingehauene Trommelfelle, fremde Betten und Straßen und heiße Lieder und abends der Korn gegen ’s Lampenfieber…“ Also Hand aufs Herz, Udo: Wirst Du die Hotel-Suite demnächst gegen das traute Eigenheim eintauschen?

„Das kann man ja alles so n bißchen offen gestalten – da will ich mich nicht so genau festlegen. Natürlich ist der .Frau Lindi‘-Text reichlich überzogen. Bei dem Song hab‘ ich mich auch selbst verarscht: Das hab‘ ich mir früher als Alt-Macho immer so vorgestellt, aber mittlerweile bin ich ja entmachoisiert. Und mit dieser Frau wie in dem Song würd‘ ich bestimmt nicht klar kommen..

Nun muß das ja auch nicht unbedingt ’ne Frau sein, es kann auch ein Kerlchen sein dann ist das mit der Kindeszeugung nur etwas schwieriger. Dann müssen wir welche adoptieren – oder wir holen sie uns von der Samenbank.“

Stichwort für einen weiteren neuen Song. Neben „Samenbank“ enthält das Album weitere vier Titel, die im gewohnten Lindenberg-Idiom das Grauen vor der schönen, neuen Welt beschreiben. „D-4718161“ ist die Nummer aus Udos Personalausweis, die er jetzt zum Liedgut umfunktioniert. Seine apokalyptischen Visionen drehen sich weiterhin um das „moderne Paradies der Gen-Technologie“ und den total verdateten Menschen.

Die Lektüre von Udos Songs erinnert an ein musikalisches Nachblättern im Almanach der Zeitgeschichte. Wie persönlich können da eigentlich noch seine Songs sein?

“ Was ich mache, das ist sowas wie ein Jahresmagazin, wie eine Dokumentation des Zeitgeschehens. Ich will nicht meine intimen Psychokonflikte vor aller Öffentlichkeit ausbreiten, die Bühne zur Couch machen und das Publikum zum Analytiker. Wenn ’s ganz tief in mir, in meinen Schaltzentralen irgendwo klemmt, wenn ich meine ganz speziellen Udo-Probleme hab‘, kann ich die auch immer noch besser im Freundeskreis klären.“

Auch das Problem „Helmut Owiewohl“? Ist doch Udo bei diesem Song glatt dem amtierenden Kanzler (verbal) frisch verknallt um den Hals gefallen?

„Also offiziell ist der Mann ja hetero. Ich als Amateurpsychologe meine aber, irgendwie homophile Züge in seinem Gesicht zu entdecken, was mir den Helmut eher sympathisch macht. Da stellt sich natürlich die Frage: Was wäre eigentlich, wenn unser Kanzler schwul wäre?

Neulich traf ich Hannelore ich hab‘ sie tatsächlich auf einer Party getroffen – aber Hannelore wollte sich über die Schwulitäten von Helmut nicht weiter auslassen. Ich hab jetzt mal bei Freud unter Entgleisungen, Irrungen und Verwirrungen nachgeschlagen, denn ich bin zwar bilateral, aber daß ich es jetzt ausgerechnet mit Kohl treibe, finde ich selber schon ziemlich weggetreten – ich bin da aber noch nicht ganz durch, deshalb möchte ich dazu nichts weiter sagen …“

Der Kreis schließt sich beim Song „Sündenknall“ – einem fast schon resignierten Nachruf auf die Spezies „Mensch“, die ihrem Ende entgegenblickt. Udo in den Fußstapfen von Huxley, Wells und Orwell. Das ist zweifellos amüsant, da immer unterhaltsam, aber nie frei von dem leicht penetranten Beigeschmack, daß hier einer kühl kalkulierend in medienwirksame Kerben haut.

Doch noch einmal zurück zum Ausgangspunkt: Udo und die Jugend. Nimmt sie ihm seine Sprüche ab? Spricht er überhaupt noch ihre Sprache?

Wählt man obige (nicht unbedingt repräsentative) Umfrage als Maßstab, so hat sich an Udos Akzeptanz im Laufe der Jahre wohl wenig geändert: Diejenigen, denen seine schnoddrige Sprücheklopferei mit sozialkritischen Untertönen grundsätzlich auf den Keks geht, werden sich wohl auch anno ’85 nicht mit ihm anfreunden können. Doch für die Mehrheit scheint Udo noch immer und schon wieder exakt den richtigen Ton zu treffen. Ein Langzeit-Phänomen.

Man beginnt dieses Phänomen erst so recht zu verstehen, wenn man weiß, wie beliebt er gerade an einem der ungeschminktesten Orte dieser Welt ist – der Hamburger Reeperbahn. Hier, wo Freaks aller Couleur das Herz auf der Zunge haben, ist er, der sich mit kessen Sprüchen und flexiblen Manieren nach oben boxte, nach wie vor angesagt. Wenn Udo die Reeperbahn herunterdefiliert, ist er der Kumpel, grüßt es aus allen Ecken und Ritzen: „Ey Alter! Alles okay, alles beim alten…“