Rock-Ladies
Na wer sagt's denn: Die UNO hat die Frau entdeckt! Verblüfft, daß es sie gibt, ruft sie sogleich das "Internationale Jahr der Frau" aus. So geschehen 1975. Während sich in den Staaten Women's Lib und ihre Oberkämpferinnen Gloria Steinern und Germaine Greer stark machen, ist's in Europa schlecht bestellt um Liberalisierung oder gar Fortschrittlichkeit. Von einigen Ausnahmen abgesehen, scheint die europäische Frau familiärer und konventioneller zu sein. Aber die UNO wird schon dazwischenfahren . . . 1975 ist also der Frau gewidmet, etwas spät, aber immerhin! Ironischerweise wurde gleichzeitig das "Jahr des Denkmalschutzes" aufgerufen. Eine Durchsicht in Sachen "Rockmusik und Frauen" war schon lange fällig, denn den musikmachenden Weiblichkeiten geht's nicht viel anders als denen in Fabrik, Büro oder am eigenen Herd. Oder doch? Das oft gebrauchte Wort "Unterdrückung" ist zweifellos seit einigen Jahren veraltet und fehl am Platz, aber leicht haben sie's gewiß nicht, die Rock'n Roll-Ladies.
In Europa sangen sie, was man ihnen vorsetzte
Erinnert man sich an die 60er Jahre zurück, taucht in der Vorstellung weiblicher Sänger unwillkürlich ein Marionetten-Theater auf. Das lag wohlgemerkt nicht allein an den männlichen Businessleuten, sondern auch daran, daß diese Frauen noch nicht begonnen hatten sich zu artikulieren und sich Gedanken über ihre Stellung in der Gesellschaft zu machen. Sie waren über einen Plattenvertrag genauso glücklich wie ihre männlichen Kollegen, und sehr viele wohlgemerkt hatten nicht den Mut zu diesem Sprung in eine neue „Freiheit“. Brenda Lee, Lulu, Cilla Black, Sandie Shaw und wie sie alle hießen hatten vor allem noch kein künstlerisches Potential entwickelt, um selbst zu texten, zu komponieren oder gar zu produzieren. Also sangen sie das, was man ihnen vorsetzte (übrigens auch die meisten Männer) und waren allzeit darauf bedacht, nicht aus der Rolle zu fallen. Schließlich wollten sie Erfolg haben und verhielten sich daher, wie es das Showgeschäft (bzw. 95% männliches Personal) erwartete. In Europa schien das alles ganz normal.
Der Folkbewegung verdankt Amerika die größten Talente
Anders sieht es dagegen in den USA aus. Auf dem Jazzgebiet hatten sich einige große Stars herauskristallisiert: Billie Holiday und Bessie Smith sind wohl die bekanntesten gewesen. Außerdem gab es drüben die Folk-Musik, die einen Großteil des Marktes beherrschte, und wo Frauen etwas ganz Alltägliches waren. Dieser Folk-Bewegung verdankt Amerika denn auch die größten Talente des weiblichen Genres: Judy Collins, Joan Baez und Joni Mitchell, laut „Times“ heute die „Leading Lady des Rock’n Roll“. Aber es gab auch den Broadway mit seinen Revuen, mit denen man heute Persönlichkeiten verbindet wie Barbra Streisand, Judy Garland und Tochter Liza Minelli, sowie den Soul mit Namen wie Aretha Franklin und Tina Turner, der schwarzen Hexe, die es als erste schaffte, trotz ihres Sex-Images als erstklassige Sängerin gefeiert zu werden.
Beatles und Stones verwandelten Feen in reale Wesen Solche Personalities gab es in Europa ganz einfach nicht. Aber die Beatles . . . nun, das sind ja wieder Männer. Trotzdem hatten sie etwas mit dieser Sache zu tun. Wie die Rolling Stones sorgten sie dafür, daß aus den anhimmelnden Teenagertexten von früher, in denen die Mädchen von der Geliebten über die schöne Fee aus dem Märchenland bis zum absolut unrealen Traumobjekt alles waren, alltägliche Wesen wurden. Besonders die Stones waren da bekanntlich nicht so pingelig!
1966: Janis Joplin betrat die Bühne!
In den Jahren ’66 und ’67 ging es dann allerdings höllisch los! Janis Joplin betrat die Bühne, stampfte, fluchte, schwitzte und brüllte sich die Seele aus dem Leib. Das hatte es bis dahin nie gegeben, und allen Männern stockte der Atem. Man wußte gar nicht, daß es so was überhaupt gab! Janis schaffte jedenfalls Platz auf der Bühne – für alle weißen Sängerinnen, die sich artikulieren wollten und konnten. Als in diesen Monaten dann auch noch das Ex-Fotomodell Grace Slick bei den Jefferson Airplane einstieg, von freier Liebe sang, jede sexuelle Freiheit forderte, drohte ein Unglück. Grace, die erste Bandsängerin, die mit einer unglaublichen sexuellen Kaltschnäuzigkeit den Männern auf den Leib rückte und das alte fmage, wie sich Damen zu verhalten hätten, vollends zerstörte, schaffte sich! Die Plattenindustrie begriff schnell, daß hier jede Menge Geld zu kassieren war, oder wie man öfter lesen konnte: „Women’s musicsells“!
Women’s Lib mischt mit
In Europa wie gesagt, rührte sich indessen nicht viel. Hier waren die Männer am musikalischen Drücker! In den Jahren bis 1970 kam nichts bedeutend Weibliches auf die Beine. In Amerika hatte man gerade Women’s Lib ins Leben gerufen, die Befreiungsfront zur Selbstverwirklichung der Frauen. Interessant daran ist, daß diese Organisation, bzw. ihre Sprecherinnen, einen ganz gehörigen Einfluß auf die sich mehrenden Sängerinnen hatte, daß sich aber kaum eine von ihnen öffentlich zu ihr bekannte, sich mit ihr solidarisierte. Helen Reddy ist eine der wenigen Ausnahmen. Mit ihrem ersten Hit „I Am Woman“ lieferte sie die Musik eines „Lib“-Films, der mit der Zeit zur Hymne der Bewegung wurde. Joan Baez und Judy Collins, angesehene Protestler, verlegten sich währenddessen lieber auf Antikriegskampagnen und Umweltschutzaktionen.
Jools – Europas Antwort auf die US-Szene
Das inzwischen neu erwachte Bewußtsein vieler Frauen in der Rockwelt war erst durch die Veränderung der öffentlichen Meinung, der Gesellschaft, des Publikums und nicht zuletzt der Männer möglich. Zudem dürften speziell amerikanische Damen mit den Jahren ein völlig von Europa abweichendes Bewußtsein entwickelt haben. Der Freiheitsdrang der Pioniere steckt noch in ihnen. Women’s Lib konnte nur aus den Staaten kommen! Nie gab es in Europa solche Extreme wie Grace, die gepriesene „Hurengöttin der Rockmusik“, die wilde, lebenshungrige Janis Joplin oder die intime, persönliche Joni Mitchell, bei der man oft gern weghören würde, weil man ihrer enorm ehrlichen Mitteilsamkeit nicht gewachsen scheint. Julie Driscoll („Jools“) und Maggie Bell, Sängerin der „Stone the Crows“, bilden neben Vinegar Joe’s Elkie Brooks und Sonja Kristina von Curved Air, zwei der wenigen europäischen Ausnahmen. Maggie konnte sich noch so wild gebärden, wie ein alter Elch röhren, es half nichts: Ständig wurde sie mit Janis verglichen. Völlig zu unrecht, denn Maggie hörte sie erst, nachdem sie fortwährend mit ihr den Vergleich fürchten mußte. Jools dagegen war ein Original. Sie trug ihr Haar in Rekordkürze, war sicherlich das Extremste, was in Sachen Popsängerin je aus England kam, und sie war die erste aggressive, herbe (also maskuline) Band-Lady überhaupt.
Die „Family of New Rock“
Unter dem marktträchtigen Etikett „Family Of New Rock“ tauchten um 1970 in den Staaten massenweise folk-orientierte Songwriter auf. Unter ihnen Linda Ronstadt, Kate Taylor, Carly Simon, Rita Coolidge und viele andere. Die meisten von ihnen haben mit Emanzipation und Women’s Lib nichts am Hut. Zum Teil sind sie der Meinung, sich schon vor Jahren selbst verwirklicht zu haben und unabhängig zu sein, teilweise interessiert es sie wenig. Der Vorwand, es gäbe zu viele Splittergruppen innerhalb der Frauenbewegung, könnte da natürlich eine erhebliche Rolle spielen. Dann gibt es da die Sorte der tiefsinnigen, gequälten und unbequemen Songwriter. Dory Previn, wichtigste Vertreterin dieser Gattung, spricht mit bitterem Gewissen über Erfahrungen, die man freilich auch parallel zu den Women’s Lib-Forderungen sehen kann. Laura Nyro, eine New Yorkerin, deckt all ihre fehlgeschlagenen Affären auf und vergißt nie, eine „schwarze“ Bilanz daraus zu ziehen. Die meisten ihrer Songs handeln vom Schmerz und dem Alleinsein. Keinesfalls vergessen dürfen wir zwei der populärsten Rock-Lady’s überhaupt: Carole King und Melanie. Seit „Tapestry“ erreicht jede neue King-Platte spielend die Millionengrenze. Carol spricht im Spectrum von Glücklichsein und tiefer Traurigkeit und fährt gut damit. Von Melanie hörte man in letzter Zeit weniger. Sie ist, wie Carol, verheiratet und vielbeschäftigte Mutter. Ihre mit süßer Bitterkeit gewürzten Titel verkaufen sich nach wie vor sehr gut. Beide Frauen sind nicht sonderlich revolutionär und nur selten erinnern ihre Texte daran, daß sie trotz allem politisch denkende Wesen sind. Sie sind eher liberal…
Eines haben Sie alle gemeinsam: die absolute Ehrlichkeit
Was nahezu alle gemeinsam haben, ist die absolute Ehrlichkeit. Joni allen voran, Grace, Carol, Dory, fast alle, egal in welche Richtung sie tendieren, beschreiben gefühlvoll in ihren Texten persönliche Erfahrungen, Liebeserlebnisse und Nichteriebnisse – meist natürlich mit Männern! Im Vergleich zur Ernsthaftigkeit der Texte ihrer männlichen Kollegen sind sie ihnen immens weit voraus und klar überlegen. Die meisten können sich nicht einmal vorstellen, andere Texte zu schreiben oder andere Themen zu verwenden. Keine von ihnen scheut sich, begangene Fehler zuzugeben oder ein trübes Kapitel ihrer persönlichen Erfahrungen aufzuschlagen. Es gibt offensichtlich keine Gewissensbisse darüber, selbst die innersten Gefühle einer breiten Masse mitzuteilen. „Meine Probleme sind auch die Probleme vieler anderer“, meint Joni treffend und zeigt damit ihrer aller Wunsch, anderen Mädchen ihre Mißlichkeiten oder Unglücke zu ersparen.
Unterordnung vorrangig im geschäftlichen Bereich
Schwer ins Geschäft zu kommen, haben sie es alle, männliche wie weibliche Bewerber. Im Damenrevier sieht es mit der Konkurrenz allerdings weitaus vorteilhafter aus: Es gibt sehr wenige von ihnen im Vergleich zu den Herren. Unterordnung, wenn überhaupt, spielt sich vorrangig im rein geschäftlichen Teil ab. Männer sind Manager, Promoter, Disc-Jokeys, Bosse, Vorstände, soweit das Auge reicht. Im Moment soll die am höchsten erreichte Position der Damen in diesem Geschäftszweig, die der Pressechefin sein. Auf diesem Gebiet scheint es also noch viel zu tun zu geben. Kürzlich schoß aber in Washington schon das erste Schallplaltenlabel, einzig von Frauen für Frauen geschaffen, aus dem Boden!
Nicht mehr als reine Sexobjekte angesehen: die Rock’n Roll-Queens
Wenn Elkie Brooks behauptet, daß männliche Sexualität genauso häufig ausgebeutet werde wie die weibliche, hat sie zweifellos recht! Schon seit einigen Jahren werden die Rock’n Roll-Queens nicht mehr als reine Sexobjekte angesehen. (Natürlich schauen die Männer bei ihnen schärfer hin, aber …) Die inzwischen klar erkenntliche Qualität und das ernsthafte Niveau verdankt die vereinigte Frauenschaft nicht zuletzt Joni Mitchell, die nicht nur ihre besten Texte liefert, sondern nebenbei die klarste Stimme und die differenzierteste Musikalität besitzt. Sie hat ihren größten Traum verwirklicht: Sie ist unabhängig und mit sich selbst im reinen. Trotz allem Erfolg ist sie sie selbst geblieben und verlor zwischenzeitlich nicht einmal ihren angeborenen Optimismus. Bei ihr gibt es keinen Glitter auf der Bühne, keine geflüsterten Affären oder Kompromisse, weder an Industrie noch an ihre Begleiter. Nur wenige ihrer Kolleginnen benutzen noch die „weiblichen Waffen“ als Mittel zum Zweck – und schon gar nicht „live“. Die meisten würden am liebsten abstreiten, sie überhaupt zu besitzen!! (Denkt man da an ein paar Herren, die sich noch in ganz anderen Dimensionen prostituieren . . .) Und ist es nicht ein klares Zugeständnis, oder zumindest eine gewollte Gleichstellung, wenn sich viele der großen Rockgötter (Jagger, Cooper, Reed oder Bowie) eindeutig in feminine Gefilde begeben. Es fragt sich nur, ob es den Ladys gut tun würde, sich ebenfalls anzunähern, um sich gegebenenfalls in der Mitte (versöhnlich) die Hände zu reichen. „Auf der Bühne bin ich sexlos!“, beteuerte Marsha Hunt, die wirklich sexy ist, schon vor Jahren. Eine Annäherung scheint also nicht vermeidbar!
Mädchengruppen verzichten auf Botschaften zur Selbstbefreiung
Mitglied einer Rockband zu sein ist logischerweise nicht leicht! Marsha Hunt sprach von Schwierigkeiten der Band, ihr gegenüber den richtigen Ton zu finden und der Ratlosigkeit im Verhalten ihrer Musiker. Maggie dagegen sieht sich als ein gewöhnliches Mitglied ohne Vorzüge, Nachteile oder Sonderbehandlungen. Die Geschichten vom „Jeder-mit-jedem“ streiten sie jedoch alle strikt ab. Ihre Persönlichkeit wird von keinem Gruppenmitglied in Frage gestellt! Zumal die weiblichen Sänger oft den einzigen Faktor der Unterscheidung bilden: Ein eindeutiges Markenzeichen (bzw. ein Erfolgsrezept). Aber es gibt ja schließlich auch reine Damengruppen wie Fanny und Birtha. Erstaunlich allerdings, daß sie bei sich selbst den Sexfaktor völlig ausschließen und mit Selbstbefreiungs-Botschaften nichts zu tun haben wollen. Sie haben zu lange in miesen, kleinen Clubs gespielt, der Willkür der Besitzer ausgeliefert, sind den härtesten Weg gegangen, um ins Business zu gelangen, um noch irgendwelche Illusionen zu besitzen.
Suzi Quatro: „What’s ladylike?“
Endgültig ist festzustellen, daß weibliche Stars es zweifellos schwerer haben sich selbst zu finden (Gesellschaft und so), und es daher für sie mit weit größeren Schwierigkeiten verbunden ist, den Sprung „nach oben“ zu schaffen. Obwohl Rita Coolidge der Meinung ist, Frauen wären nicht schwächlicher als das andere Geschlecht, dürfte dieser aufreibende und strapazierende Job der Grund dafür sein, daß viele schon zu Beginn das Handtuch werfen oder erst gar nicht damit anfangen. „Aber die Quatro schafft sich immer noch“, werden jetzt einige flüstern. Natürlich gibt es Ausnahmen, wie überall. Von Suzi stammt übrigens die bemerkenswerte Frage „Whal’s Ladylike?“ (Was ist denn frauentypisch?), die deutlich zeigt, inwieweit in den letzten Jahren die Grenzen verflossen sind. Frauen mit „heart and mind“ (Herz und Verstand), wie Joni sie nennt, werden immer mit den gleichen Bedingungen rechnen können wie die Herren. Und letztlich sollte man den Satz des Ex-CBS-Chefs Clive Davies nicht vergessen: „Das Rock-Universum hat sämtliche musikalischen Ausdrucksweisen vereinnahmt und expandiert nun nach allen Seiten!“ Wenn also ein Geschäft zu machen ist, spielt es keine Rolle, welches Geschlecht der Interpret hat. Die Chancen stehen gleich! Und Emanzipation bedeutet eben nicht Vorherrschaft, sondern Gleichberechtigung.